Manche Worte wurden lange nicht mehr über den THW Kiel geschrieben; sie kamen im Wortschatz der Handball-Berichterstatter des Landes schlichtweg nicht vor. "Flensburg entzaubert Meister Kiel", hieß es kurz nach dem Schlusspfiff bei Sport 1, von einem "Debakel" war gar bei den Kieler Nachrichten zu lesen. Wann hatte es dergleichen zuletzt gegeben?
Worte wie diese waren über anderthalb Jahre schlichtweg unnötig, weil Kiel kein Spiel verlor. Nun ist es passiert - zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. In einem mitreißenden Nord-Derby am zweiten Weihnachtsfeiertag verlor Kiel verdient 29:35 bei der SG Flensburg-Handewitt, nur 17 Tage nach der überraschenden Heimpleite gegen MT Melsungen. Kiel verliert plötzlich Spiele in der sonst so einseitigen Handball-Bundesliga.
Endlich, möchte man sagen, ohne den Kielern dabei zu nahe zu treten. 101:1 Punkte in Serie hatte der THW bis zum Dezember geholt, spielte dabei mit 68:0 Punkten in der vergangenen Saison eine perfekte Spielzeit. Hinzu kamen weitere Siege in DHB-Pokal und Champions League, wo Kiel am Ende jeweils den Titel holte. Auch der Blick nach Flensburg ist aufschlussreich: Über fünf Jahre lang, 14 Spiele in Serie hatte der nördlichste Bundesligist der Republik nicht mehr gegen den großen Konkurrenten gewonnen. "Wir haben von der ersten bis zur 60. Minute das Spiel kontrolliert", jubilierte Flensburgs Trainer Ljubomir Vranjes diesmal, "das schaffen nicht viele Mannschaften in der Welt."
"Das normalste auf der Welt"
Die Kieler hatten sich mit der neuen Situation schnell akklimatisiert, und akzeptierten die Niederlage widerspruchlos. "Als Sportler muss man auch die Leistung der anderen anerkennen können", befand Rückraumspieler Filip Jicha. Auch sein Trainer Alfred Gislason sagte: "Wenn man beim Tabellendritten der Handball-Bundesliga nicht gut spielt, ist es das normalste auf der Welt, wenn man dieses Spiel verliert."
Tatsächlich? Im vergangenen Jahr hätte Kiel auch jedes noch so unglückliche Spiel noch gedreht. Ein kurzer Zwischenspurt zu Beginn der zweiten Halbzeit, die Verhältnisse kurz zurecht gerückt. Diesmal hatte Kiel den Flensburgern nichts entgegenzusetzen. Es ist vielleicht das Ende der absoluten Kieler Dominanz: Der Rest der Liga hat aufgeholt, kann die Übermannschaft an sehr guten Tagen tatsächlich schlagen. Für die geschundene Bundesliga, die so lange unter der sportlichen Einseitigkeit litt, ist das die beste Nachricht seit langem.
Gegen Flensburg war Wunderliches zu beobachten: Das Angriffsspiel des THW hatte plötzlich an Wucht verloren. Noch vor wenigen Monaten rollten die Kieler mühelos über jede Abwehrformation hinweg. Doch Jicha, der wichtigste Angreifer, plagt sich seit Wochen mit einer Verletzung des Bizepsmuskels im Wurfarm herum, die übrigen Rückraumspieler wirkten ohne die Führungsarbeit des tschechischen Welthandballers seltsam kopflos.
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Am Mittwochabend funktionierte einzig das Spiel über Marcus Ahlm und Toft Hansen am Kreis zufriedenstellend. "Wir hätten noch 30 Minuten länger spielen können und hätten trotzdem nicht gewonnen", sagte THW-Geschäftsführer Klaus Elward.
Noch so ein Satz, den es im Kieler Sprachschatz lange nicht mehr gab.
Natürlich ist zu erwähnen, dass die Flensburger an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag nicht nur einen sehr guten, sondern einen exorbitant guten Tag erwischt hatten. Torwart Matthias Anderson hielt überragend (20 Paraden). Seine Vorderleute gaben im Angriff sogar ihr Positionsspiel auf, wuselten wild umher, stellten die Kieler immer wieder vor überraschende Aufgaben. Der THW, der seine Gegner sonst häufig überrent, wurde selbst überrannt. Besonders eindruckvoll präsentierte sich Holger Glandorf, der kürzlich seine Teilnahme an der Handball-WM in Spanien wegen Überlastung abgesagt hatte. Glandorf warf neun Tore, in dieser Form wird er dem DHB-Team sehr fehlen.
Rhein-Neckar Löwen sind Wintermeister
Es wäre dennoch eine Überraschung, hieße der deutsche Meister in dieser Saison nicht erneut THW Kiel. Bundestrainer Heuberger geht davon aus, auch Liga-Geschäftsführer Frank Bohmann rechnet fest damit. Der nüchterne Blick auf die Kieler Klasse genügt: Ruft der THW sein ganzes Können ab, ist der Rekordmeister weiterhin kaum zu schlagen. Wenn Jicha wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Und auch einige seiner Mitspieler, inklusive Torhüter Thierry Omeyer, einen etwas besseren Tag erwischen als in Flensburg.
Als Wintermeister gehen diesmal die Rhein-Neckar Löwen in die Pause (drei Minuspunkte), gefolgt von Kiel (fünf). Auch Flensburg (acht) und sogar die Füchse Berlin (zehn) scheinen noch in Schlagdistanz. "Ich habe immer gesagt, dass es eine enge Saison werden wird", sagte THW-Trainer Gislason, "die Rückserie wird nun richtig interessant. Ich hoffe aber, dass ich nicht mehr allzu viele Tage wie diesen erleben muss."
Vor einem Jahr war die Bundesliga zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden - zugunsten des THW Kiel. In diesem Jahr ist manches anders. Die Regel, dass am Ende ohnehin immer die Kieler gewinnen, gilt vorerst nicht mehr. Die Aura der Unbesiegbarkeit ist weg.