THW Kiel:Rotz im Trikot

EHF Final4 - 15/16 - THW Kiel vs. MVM Veszprem

Scheitern tut weh: Kiels Rückraumspieler Dener Jaanimaa (links) wird von Veszprems Momir Ilic kraftvoll aus dem Weg geschafft.

(Foto: Krause/Fotostand)

Ein Jahr ohne Titel? Gab es für den Handball-Rekordmeister THW Kiel seit 2003 nicht mehr. Aber jetzt sind da diese 18 unglücklichen Sekunden im Champions-League-Halbfinale.

Von Ulrich Hartmann, Köln

Handballtrikots eignen sich trefflich für allerhand Gesten des Stolzes. Manche Spieler schlagen sich mit der Hand aufs Vereinswappen, andere zeigen mit den Daumen auf ihren rücklings aufgeflockten Namen. Das Trikot vereint Individualisten zum Kollektiv. Dominik Klein ist im Trikot des THW Kiel acht Mal deutscher Meister geworden, sechs Mal Pokalsieger, drei Mal Champions-League-Gewinner. Der 32-jährige Linksaußen hat neun Jahre lang jede Saison mindestens einen Titel mit dem THW gewonnen, zwei Mal sogar das Triple. Ihm hat man den Stolz immer besonders gut angesehen. Keiner zeigte so freimütig seine Gefühle.

Dominik Klein wollte "den Fans zum Abschied was präsentieren" - daraus wird jetzt nichts

Am Samstagabend stand Klein weinend im Kabinengang der Kölner Arena. Der Radiomann, dem er ein Interview gab, hielt mit der rechten Hand das Mikrofon und rieb Klein mit der linken Hand tröstend den Arm. Klein schniefte. 2010 und 2012, nach den Erfolgen in der Königsklasse, war er jeweils im Kabinengang der Kölner Arena gestanden und hatte sein Kieler Trikot jubelnd mit Champagner getränkt. Doch nach Kleins letztem wichtigen Spiel für den THW lief nicht der Champagner, sondern Kleins Nase. Er zog den Ausschnitt des eleganten weißen Trikots zur Nase hoch und schnäuzte sich hinein.

So gehen Jahre des Erfolgs mit Tränen der Enttäuschung zu Ende. Klein wechselt nach zehn Jahren in Kiel zum französischen Erstligisten HBC Nantes. Andere Sportler weinen da Tränen der Rührung, aber davon waren die Kieler weit entfernt. Zum sechsten Mal waren sie beim Final-Four-Turnier der Champions League dabei, das zum siebten Mal nacheinander in Köln ausgetragen wurde. Drei Mal hatten sie dort das Finale erreicht, zwei Mal gewonnen. Klein wollte noch einmal diese Trophäe holen und "den Fans zum Abschied was präsentieren". Doch diesmal gewannen andere. Den Titel schnappte sich Polens Handball-Meister KS Vive Kielce, die Kieler dagegen verspielten am Samstag im Halbfinale gegen MVM Veszprem 80 Sekunden vor Schluss eine 25:23-Führung. 18 Sekunden vor Schluss warf Christian Dissinger bei 25:24 neben das Tor, sechs Sekunden vor Schluss konnte der Torwart Niklas Landin den 25:25-Ausgleich nicht verhindern. In der Verlängerung machte Veszprem mit den konsternierten Kielern dann kurzen Prozess. Am Ende verloren sie 28:31. Weil sie in dieser Saison zudem den Pokalsieg und den Meistertitel versäumt haben, kann Klein den Fans in seinem zehnten Jahr und ausgerechnet zum Abschied überhaupt nichts präsentieren. Kiel geht erstmals seit 2003 leer aus.

Der THW ohne Titel - das ist wie ein König, der seine Krone nicht mehr finden kann. Der Trainer Alfred Gislason ist zwei Jahre nach Klein zum THW gekommen. Gislason gilt als Vater der Erfolge. Auch er muss sich jetzt arrangieren mit dieser Messe ohne Krönung. "Ohne Titel ist es bitter", sagt er, "aber eine Überraschung ist das nicht für mich." Kiel hat eine Saison hinter sich, wie der Klub sie lange nicht erlebt hat. Immer wieder haben sich relevante Spieler verletzt. "Das war eine unglaubliche Bastelarbeit", sagt Gislason über 13 Verletzungsfälle und sechs Nachverpflichtungen im Laufe der Saison. "Es war schwierig, die Mannschaft auf den Beinen zu halten." Auch am Wochenende fehlten in Steffen Weinhold und Stig Toft Hansen zwei wichtige Spieler. Der Sieg gegen Veszprem hätte dem THW trotzdem gelingen müssen. Doch in der Verlängerung fiel die Mannschaft zusammen wie ein Kartenhaus. "Da habe ich ein müdes Team gesehen", sagte Gislason verständnisvoll.

Natürlich formulierte der Isländer wieder seinen Appell an die Bundesliga: dass sie die deutschen Europapokal-Teilnehmer stützen und ihnen im Liga-Betrieb 16 statt 14 Spieler auf dem Spielbogen zugestehen solle. So oft hat Gislason die Forderung im Laufe der Saison schon geäußert, dass er sie diesmal leicht ironisch auflöste. Seine neuerliche Rezitation beschloss er mit dem Zugeständnis, dass er die auslösende Frage eines Reporters leider vergessen habe. Konkrete Fragen interessierten Gislason am Wochenende nur bedingt. Er redete sich den Frust von der Seele und schickte eine Botschaft der Zuversicht an die Kieler Fans und die Liga, als er sagte: "Wir werden weiter Handball spielen."

Das ebenfalls knapp verlorene Spiel um Platz drei am Sonntag gegen Paris St. Germain (27:29) hatte für die Kieler dann nur noch nachrangige Bedeutung. Wichtiger sind ihnen die beiden ausstehenden Liga-Partien, in denen sie, wie Gislason sagte, "noch den dritten Platz absichern müssen". Am Mittwoch in Eisenach und am Sonntag gegen Stuttgart. Das wird Dominik Kleins letztes Pflichtspiel für Kiel. Dann sollte die Rührung über die Enttäuschung siegen. Dann könnte es passieren, dass Klein sich noch ein letztes Mal ins Kieler Trikot schnäuzt. Die Fans werden es ihm verzeihen.

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