Er sei einfach müde, sagte Patrick Wienczek, „jetzt geht es erst einmal in den Urlaub“. Der Handballprofi lächelte, Wienczek spricht leise, lächelt meist, er ist ein angenehmer Zeitgenosse – abseits des Handballfeldes. Vorher war er immer wieder wie ein Büffel auf seine Gegner gestürzt, riesige Kerle wie er, an seinem Arbeitsplatz ist wenig Raum für Freundlichkeiten. Nun aber war der Job erledigt, der THW Kiel hatte wenigstens das Spiel um Platz drei beim Final Four der Champions League gewonnen, auch noch gegen die neue Nummer eins im nationalen Betrieb, den SC Magdeburg. „Ich bin froh, dass wir das hinbekommen haben“, sagte Wienczek, er gehe wenigstens mit „einem besseren Gefühl in die Pause.“ An der miesen Saisonbilanz ändere das nichts: „Das haben wir uns ganz anders vorgestellt.“
Der Rekordmeister hat die Saison zwar mit einem bedeutungslosen Sieg beendet – aber ohne Titel. Viel zu wenig für die Ansprüche des Branchenprimus, dem eine derart erfolglose Saison letztmals vor sechs Jahren widerfahren war. Eine Saison ohne Pokal ist für das Selbstverständnis des Bundesligakrösus, dessen Etat mit etwa 13 Millionen Euro der höchste der Liga ist, schlicht inakzeptabel. Kiel gilt in der weltweit besten Liga als der FC Bayern des Handballs, komischerweise haben die Münchner Kicker eine ähnlich miserable Saison hingelegt. Und wie im Süden bebt die Erde auch im hohen Norden, Geschäftsführer Victor Szilagyi fand düstere Worte: Kein Stein werde auf dem anderen bleiben, kündigte der 45-Jährige an, alles werde hinterfragt, die Mannschaft, der Trainer, er selbst. „Wir sind alle wahnsinnig frustriert, müssen zusehen, dass wir schnell wieder dahin kommen, wo wir waren. Es ist klar, dass es so nicht weitergehen kann.“

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Nun, fünf Wochen später ist Szilgyi weiterhin im Amt, hat aber in Alisa Türck eine zweite Geschäftsführerin zur Seite bekommen. Die Digital- und Marketingexpertin soll „die Marke modernisieren“, wie der Aufsichtsratsvorsitzende Warc Weinstock präzisierte. Weinstock ist der starke Mann im Hintergrund, derjenige, der zusehen muss, dass die sportliche Abteilung für das viele Geld angemessene Leistungen liefert. Im Gegensatz zum FC Bayern, wo nach derlei Misserfolgen schon mal die gesamte sportliche Führungsriege ausgetauscht wird, bleibt in Kiel auch Trainer Filip Jicha im Amt. Szilagyi und Jicha haben große Verdienste im Klub, feierten schon im THW-Trikot große Erfolge, gewannen Meister- und Pokaltitel sowie die Champions League. 2018 wurde nach der letzten Saison ohne Titel das Geschäftsführer-Trainer-Duo installiert, sammelte seither drei Meisterschaften, einen Pokalsieg und gewann die Champions League.
Die Routiniers sind angesichts der enormen Belastungen nicht mehr in der Lage, konstant auf höchstem Level zu spielen
Der Kredit scheint allerdings aufgebraucht, denn schon in der Vorsaison war jene fehlende Konstanz zu erkennen, die auch als Hauptursache für das aktuelle Dilemma gesehen wird. Im Vorjahr wurde das frühe Scheitern in Pokal und Champions League durch den Gewinn der Meisterschaft auf den letzten Metern kompensiert. Nach dem Weggang einiger Spitzenspieler, wie dem zweimaligen Welttorhüter Niklas Landin oder dem torgefährlichen Rückraumregisseur Sander Sagosen, blieb das Happy End in dieser Spielzeit aus.
Im Pokal flog Kiel früh gegen Wetzlar aus dem Wettbewerb, das Meisterrennen war nach üblen Niederlagen bald beendet, zudem verpasste Kiel als Vierter mit 15 (!) Punkten Rückstand auf Meister Magdeburg die Qualifikation für die Königsklasse. Die Hoffnung, die Spielzeit in der Champions League zu retten, endete in der desaströsen 18:30-Halbfinalpleite gegen den späteren Champion Barcelona.
Die Vorführung war immerhin dienlich, die Defizite gut zu sehen: Gerade die Routiniers um Wiencek, Hendrik Pekeler, Domagoj Duvnak, Harald Reinkind, Niklas Ekberg oder Steffen Weinhold, die das Team jahrelang getragen haben, aber nun jenseits der 30 sind, waren nicht mehr in der Lage, in dem brutalen Profigeschäft mit bis zu 70 Spielen pro Saison konstant auf höchstem Level zu agieren. Und den jungen Talenten um Eric Johannson, 24, oder Elias Ellefsen á Skipagotu, 22, fehlt Erfahrung in derlei K.-o.-Spielen. „Wenn die Leistungsträger wegbrechen, können wir das mit der Bank nicht kompensieren“, stellte Szilagyi fest. Zudem konnte Kiel den Weggang von Landin nicht kompensieren, zumal der für ihn verpflichtete Olympiasieger Vincent Gerard wegen Verletzungen nie spielte, weshalb sein Vertrag aufgelöst wurde und er in die zweite französische Liga ging. Lustigerweise spielt Gerard nun für Frankreich bei Olympia – und nicht Samir Bellahcene, den Kiel als Ersatz verpflichtet hatten.

Das Torhüterproblem wurde mit der kürzlichen Verpflichtung von Nationalkeeper Andreas Wolff erstklassig gelöst, Weinhold und Ekberg verlassen Kiel, im Dänen Emil Madsen, 23, oder dem Ungarn Bence Imre, 21, kommen weitere hochkarätige Talente. Vom Schweden Karl Wallinius, 25, oder dem Österreicher Nikola Bylik, 27, die langjährige Verträge haben, werden Leistungssprünge erwartet. Dem großen THW steht also ein Übergangsjahr bevor, in dem der Kader zusammenwachsen und sich in der zweitklassigen European League schütteln soll. Ehe wieder angegriffen wird: Für 2025 sind im spanischen Torhüter Gonzalo Pérez de Vargas (Barcelona) und dem kroatischen Nationalkreisläufer Veron Nacinovic (Montpellier) die nächsten Topspieler bereits unter Vertrag.
Auch für Trainer Filip Jicha dürfte es eine Bewährungssaison werden, der 42-jährige Tscheche gilt als Trainer alter Schule und führt sein Team mit harter Hand. Bisher hatte er es zuvorderst mit fertigen Topprofis zu tun, nun ist er gefordert, den Verjüngungsprozess zu begleiten. Sein Vertrag läuft nach der Saison aus, eine weitere ohne Titel dürfte er nicht überstehen. Ob der THW nochmals auf dem Transfermarkt tätig wird, hängt davon ab, ob Spieler zu haben sind, die in System und Gefüge passen. Szilagyi hatte angekündigt, den Markt zu sondieren, aber „von populistischen Maßnahmen“ abzusehen. Mit norddeutscher Gelassenheit also, das ist dann doch ein Unterschied zum prominenten Fußballpendant im Süden.