Thomas Muster:"Du verbrennst! Du verglühst!"

Der Österreicher spricht über Wege, Gegner in Roland Garros niederzuringen, innere Schmerzgrenzen, Attitüden des Pariser Publikums und sein Leben in Australien.

interview Von Gerald Kleffmann

SZ: Herr Muster, der Spanier Rafael Nadal will Roland Garros zum zehnten Mal gewinnen, der 2015 dominierende Weltranglisten-Erste Novak Djokovic aus Serbien zum ersten Mal. Wie triumphiert man in Paris? Sie wissen ja, wie das geht, 1995 holten Sie den "Coupe des Mousquetaires".

Thomas Muster: Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Für mich ist es nicht nur das schwierigste Sandplatzturnier. Für mich gibt es weltweit kein Turnier, das schwieriger zu gewinnen ist, alle Beläge eingeschlossen. Auf Sand zu spielen, ist kraftraubend. Die Bewegungsabläufe sind speziell. Man muss extrem viel können und nicht nur fit sein. Man muss Varianten, Finessen im Spiel haben.

Nadal kann sich unsterblich machen, aber Djokovic sehen viele nun im Vorteil.

Er hat alle Fähigkeiten, um zu gewinnen. Bei Nadal hängt viel vom Selbstvertrauen ab. Er wurde schon öfter abgeschrieben. Dann kommt Paris - Nadal ist da. Aber klar ist auch: Irgendwann wird seine Serie reißen, schon aufgrund seines Alters wird das passieren. Aber auch Djokovic wird älter, das erhöht den Druck, wenn die Uhr tickt. Viele große Spieler, denen der eine von vier möglichen Grand-Slam-Titeln fehlte, stolperten beim letzten fehlenden Puzzleteil. Da ist einfach viel Psychologie im Spiel.

Was macht Roland Garros, das am Sonntag mit Runde eins beginnt, so schwer? Sie haben es geliebt, aber sicher gab es Momente, in denen Sie es hassten. Sie nahmen zehn Jahre Anlauf für den Sieg.

Eine Komponente wird oft übersehen: das Wetter. Es ist absolut fordernd. Paris kann kalt, feucht sein. Dann ist der Platz langsam. Paris kann, bei Sonne, schnell sein. Dann wieder bläst Wind. Schon ist es ein anderes Turnier, gerade für die, die vom Timing her anfällig für so etwas sind. Paris zu gewinnen, bedeutet, verschiedene kleinere Turniere innerhalb eines großen zu gewinnen. Nadals neun Titel sind kein Zufall. Er hat sich jeden knallhart erarbeitet.

Nadal hat seit 2005 nur einmal in Paris verloren, 2009 gegen den Schweden Robin Söderling. 2015 zeigt er sich aber bisher instabil. Welchen Matchplan würden Sie gegen Nadal wählen?

Nadal spielt wie ich früher. Er wäre für mich einfacher zu lesen als Djokovic. Ich kann das beurteilen, weil ich mit Nadal trainiert habe. Ein Duell wäre ein absoluter Fitnesskampf. Djokovic wäre schwieriger zu lesen, ich kenne ihn nicht auf dem Platz. Früher war es zudem ein Vorteil, als Linkshänder gegen einen Rechtshänder zu spielen, weil die Rückhand bei Rechtshändern oft schwächer war. Letztlich hinken die Vergleiche, es war eine andere Zeit. Man sollte jede Generation mit ihren Erfolgen lassen.

Wie beurteilen Sie das heutige Sandplatztennis? Die Matches dauern lang, finde ich. Wenn es regnet, kann es sein, dass die Organisatoren mit dem Zeitplan zu kämpfen haben. Ich würde auf der Tour lieber einen härteren Ball sehen, wie früher. Die Beläge würde ich gleich lassen. Die Matches würden kürzer werden, es gäbe mehr Angriffstennis. Die härteren Bälle nehmen einfach mehr Spin an, man kann sie besser bearbeiten. Für meinen Geschmack ist das, was geboten wird, zu einseitig. Ich finde es auch schade, dass schlechtere Spieler, die einen Top-Mann schlagen, keine Bonuspunkte mehr bekommen. Wenn die Nummer 100 die Nummer 1 schlägt, muss das eine Wertigkeit haben! Bonuspunkte wären eine Belohnung und ein Ansporn. Heute ist es so, wenn du bei den Grand Slams und den Masters-Turnieren im Feld bist und ein, zwei Runden überstehst, bist du immer dabei. Dieses System schützt die Großen zu sehr.

Muster, Thomas trainiert verletzt

Tennis-Geschichte: Nach einem unverschuldeten Autounfall trainiert Thomas Muster 1989 trotz Gipsbeines auf einer Spezialbank sitzend.

(Foto: Ullstein)

An die Grenzen zu gehen, war ja auch zu Ihrer Blüte Ihre Stärke. Sie sagten, auf Sand müsse man Gegner "aussaugen". Gilt dies nach wie vor, gerade in Paris?

Natürlich. Wenn man einen Satz verliert, ist das nicht tragisch. Man ist da draußen notfalls für Stunden, da gibt es Momente beim Gegner, die man ausnützen muss. Dann musst du zur Stelle sein. Deshalb muss man auf Sand den Gegner noch besser beobachten. Nach langen Ballwechseln etwa, wenn der Gegner im hohen Pulsbereich ist, das Laktat hochschießt, musst du nachsetzen, den Gegner laufen lassen, Stopps setzen. In jedem Match gibt es einen Knackpunkt, Games, über die man drüber muss, um dem Gegner standzuhalten. Dann zerbricht er vielleicht daran.

Gerade diese Fähigkeit beherrscht Djokovic 2015 nahezu perfekt. Wie sehr schreckt dieses Kämpfer-Image ab?

Das ist ein Faktor. Wenn Nadal oder Djokovic die ersten Sätze auf Sand gewinnen, ahnen die meisten: nichts mehr zu holen! Weil sie um die Kämpferqualitäten wissen. Da besiegt man sich mental schon vorher.

Muss man Lust an der Qual haben?

Die muss man generell im Spitzensport haben. Auch die Topleute leben nicht von Talent und Touch alleine. Es ist ja nicht so, dass jemand sagt: Ich liebe Schmerz! Bei Sportlern geht es darum, sich höhere Schmerzgrenzen zu erarbeiten. Sind sie da, spiegelt sich das in wichtigen Situationen wieder. Wer geht einen Schritt weiter? Wer beißt mehr? Wer will mehr?

Wie sehr waren Sie besessen von dem Gedanken, Paris gewinnen zu wollen?

Sehr. Es war realistisch betrachtet für mich die einzige Chance auf einen großen Titel. Der Belag lag mir einfach. Daher habe ich alle meine Anstrengungen in dieses Turnier gelegt. Vielleicht hätte ich Paris sogar einmal mehr gewinnen können, wenn mir Michael Stich nicht 1996 im Achtelfinale dazwischengestanden wäre.

Das Publikum in Paris gilt als Diva - womit assoziieren Sie es?

Das Publikum ist fachkundig. Eine coole Kulisse. Die Zuschauer lieben dich - oder sie lieben dich nicht! Wenn du gegen einen Franzosen spielst, bist du der Bad Guy, klar. Aber die Franzosen respektieren ehrliche Arbeit, Kampfgeist. Was sie nicht wollen, ist, wenn du sie kritisiert, an Schiedsrichtern herummäkelst. Roland Garros ist eine authentische Bühne. Das sind die US Open zwar auch, aber dort machen die Zuschauer wirklich, was sie wollen.

Hat Ihnen das Publikum einen Kick gegeben, weil Sie wussten: Wenn ich meine Rolle gut spiele, wird das geschätzt?

Ja. Absolut. Die Franzosen mochten mich aber auch, weil ich oft in Frankreich gespielt und gewonnen habe. Sie registrieren sehr feinfühlig und genau, wie das Verhältnis eines Spielers zu Frankreich ist, ob er es mag oder weniger. Das sollte man als Spieler wissen, das macht das Leben leichter.

Aus Ihrer Ära sind viele als Trainer auf die Tour zurückgekehrt. Warum haben Sie diesen Schritt nie in Erwägung gezogen?

Andre Agassi v Thomas Muster - Berenberg Classics

"Vielleicht hätte ich Paris sogar einmal mehr gewinnen können, wenn mir Michael Stich nicht dazwischen gestanden wäre": Thomas Muster.

(Foto: Daniel Kopatsch/Getty Images)

Ich bin kein Mensch der Öffentlichkeit. Ich lebe lieber zurückgezogen. Ich habe viele Hobbys. Hubschrauberfliegen. Schlagzeugspielen. Surfen. Wasserski. Ich habe viele Dinge ausprobiert und mache sie gerne. Für mich ist Tennis ein Job, den ich gemacht habe, den ich in Ordnung gemacht habe. Ich schätze andere Arbeiten aber auch. Ich schätze die des Tischlers oder Dachdeckers genau so wie die des Arztes, der Leben rettet. Wenn man sich jahrzehntelang nur im Tenniszirkus bewegt, kriegt man den Eindruck, dass sich das Leben um den Tennisball dreht. Wenn du weg bist, merkst du, dass es extrem viele Menschen gibt, denen Tennis egal ist.

Konnten Sie nach Ihrem Karriereende rote Asche noch sehen?

Ich konnte Tennis nicht mehr sehen. Ich konnte Hotels nicht mehr sehen. Und Flughäfen. Das eine war das Training, ich habe immer hart trainiert. Das war nie das Thema. Das Reisen ist eine andere Sache. Wenn du das 16. Mal in Miami bist, kommst du dir wie im Hamsterrad vor. Dann muss man einen Strich machen. Ich habe ihn 1999 nie bereut, genau so wenig wie nach meinem Comeback 2011 auf der Challenger Ebene. Da wollte ich mir etwas beweisen. Ich habe die Tour von unten kennen gelernt, und das hat mir viel gegeben.

Musste es bei der Flucht gleich Australien sein, wo Sie einige Monate im Jahr leben?

Das war keine Flucht, es hatte sich von alleine ergeben. Ich hatte 1993 in Melbourne bei den Australian Open erstmals eine Wohnung und danach immer wieder. Das Land hat mich von Beginn an fasziniert. Ich liebe die australische Lebensart. 1997 habe ich dann mein erstes Haus gebaut. Ich war auch mit einer Australierin verheiratet und verbringe noch unsere Wintermonate dort. Mein Sohn lebt in Australien.

Blicken Sie heute anders aufs Tennis?

Selbstverständlich. Viel entspannter. Heute denke ich, ich habe manches viel zu ernst gesehen, viel zu dramatisch. Ich habe mir zu oft Gedanken gemacht und Ängste gehabt, die unbegründet waren. Ängste im Hinblick auf Erwartungshaltungen, Druck, Tennis als solches.

Jetzt sind Sie streng mit sich. Diese Zweifel haben Sie doch angetrieben, oder?

Im Nachhinein: ja. Aber der mentale Verschleiß war enorm. Sich permanent anzutreiben, führt permanent zu Energieverlusten. Vielleicht hätte ich erfolgreicher gespielt, wenn ich vieles lockerer gesehen hätte. Damit meine ich aber nicht das Training. Ich meine die Herangehensweise in Matchsituationen. Permanente mentale Anspannung kann auch verkrampfen.

Zuschauer kriegen diesen mentalen Verschleiß ja schlecht mit - wie groß ist er für die Topspieler?

Enorm. Du verbrennst! Du verglühst in dem Ganzen! Du reist von Turnier zu Turnier, du bist immer der, auf den alle gucken, den alle besiegen wollen, dem alle Fragen stellen. Umso unfassbarer ist, wie lange der Ofen bei Djokovic, Nadal, Federer brennt. Wie die in ihren Rollen aufgehen. Dabei geht es nicht darum, was sie alles gewinnen. Es geht darum, wie sie Jahr für Jahr, Tag für Tag für Tennis alles geben. Wie sie mit Verletzungen umgehen, aus Rückschlägen lernen, sich Ziele setzen. Das ist brutale Arbeit, Disziplin. Diese Spieler beeindrucken mich wirklich.

Und wieder stapeln Sie tief. Sie haben sich extrem geschunden. Legendär ist das Sitzgestell, in dem Sie saßen und trainierten, nachdem Sie ein Betrunkener mit dem Auto fast zum Invaliden angefahren hatte. Die Franzosen nannten Sie "Bûcheron de Leibnitz", den Holzfäller aus Leibnitz.

Es gab viele Titel für mich, Terminator, Kraftausdrücke eben. Der mit dem Holzfäller stimmt ja im Nachhinein. Ich war immer ein Arbeiter. Als ich das Weingut in der Südsteiermark besaß, habe ich tatsächlich auch Bäume gefällt. Diese Arbeit hat mir extrem viel Spaß gemacht. Ich gehe noch heute in den Wald und schlage gerne Holz.

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