Thomas Müller in der Nationalelf:Problemlöser auf Storchenbeinen

Einfach nicht zu fassen: Thomas Müller ist der wahrscheinlich modernste Spieler, den der deutsche Fußball im Moment zu bieten hat. Auch für schlechte Spiele hat er immer noch eine gute Lösung parat - und widerlegt damit ganz nebenbei die These, dass es zwischen zeitgemäßem Fußball und hohen Strümpfen eine Verbindung gibt.

Boris Herrmann

In diesen Tagen, da so ausgiebig von der Zukunft des deutschen Fußballs geschwärmt wird, ist es vielleicht auch einmal angebracht, eine Lanze für die Vergangenheit zu brechen. Auch früher gab es schöne Dinge zu bestaunen, nehmen wir nur die blanken Schienbeine von Hans-Peter Briegel. Wenn man sich heute noch einmal die Aufzeichnung eines Briegelspiels anschaut, dann ist man immer wieder ergriffen davon, wie sich ganz unten an seinen Knöcheln die Stutzen kräuseln - und er trotzdem todesmutig in die Zweikämpfe rutscht. Eines ist an diesen Aufzeichnungen aus den achtziger Jahren jedoch zu bemängeln: Sie sehen aus heutiger Sicht leider so aus, als liefen sie in Zeitlupe ab.

Poland's Arkadiusz Glowacki and Germany's Thomas Muller fight for the ball during their international friendly soccer match in Gdansk

Auf seinen dünnen Beinen kaum zu stoppen: Thomas Müller.

(Foto: REUTERS)

Dann war die Vergangenheit aber irgendwann vorbei. Briegel ging. Das Spiel wurde schneller. Und die Stutzen wurden länger. Am Anfang ging es nur darum, die gesetzlich vorgeschriebenen Schienbeinschoner zu verkleiden, später wuchsen sie ohne Angabe von Gründen bis über die Kniekehlen hinaus. Und dass die Sockenmode von Briegel heute noch Sehnsüchte auszulösen vermag, hängt wohl auch damit zusammen, dass so mancher zeitgenössische Spieler herumläuft, als ob er Strapse trage.

Für eine Weile sah es tatsächlich aus, als ob zwischen modernem Fußball und hohen Strümpfen eine kausale Verbindung bestehe - bis Thomas Müller kam, der Mann, der die Sehnsüchte der Vergangenheit mit denen der Zukunft vereint. Müller, der wahrscheinlich modernste Spieler, den der deutsche Fußball im Moment zu bieten hat, trägt seine Stutzen wieder auf Halbmast.

Bestimmt ist es so, dass auch dieser Müller mit Schienbeinschonern spielt. Das dürften dann allerdings die kleinsten Schienbeinschoner der Welt sein. Und obwohl das sicherheitspolitisch natürlich höchst bedenklich ist, kommt man nicht umhin, einen glücklichen Zusammenhang zu sehen zwischen diesen weitgehend freiliegenden Storchenbeinchen und dieser freigeistigen Spielweise.

Joachim Löw hatte Müller beim 2:2 im Testspiel in Polen erst nach gut einer Stunde auf den Rasen gelassen. Bei aller Liebe für solche Experimente - wenn die Menschen in Deutschland demnächst auf die Straße gehen, um dafür zu protestieren, dass dieser große Kleinkünstler immer spielt, egal wer, was und wo getestet wird, dann muss man sich nicht wundern.

Auch der Bundestrainer räumte hinterher ein: "Es war gut, dass er kam." Das kann man wohl sagen. Löws Eindruck, dass bis dahin "scho au immer sagemermol ein Bemühen da war", entsprach zwar den Tatsachen. Fakt ist aber auch, dass dieses Bemühen über weite Strecken ziemlich bemüht aussah. Erst mit Müller kam die Leichtigkeit.

"Ein Spieler, den man nicht richtig fassen kann"

Schon beim ekstatischen 6:2 am Freitag gegen Österreich hatte er herausgeragt. Er schoss zwar keine Tore, steuerte aber drei Vorlagen bei, war immer anspielbar und machte dabei fast nie einen Fehler. Die Leistung bei seinem Kurzeinsatz in Polen ist indes fast noch höher zu bewerten. Müller zeigte dabei, dass er auch dann funktioniert, wenn es bei der Mannschaft insgesamt nicht so läuft, dass er auch für schlechte Spiele immer noch eine gute Lösung parat hat. Er hat sich nicht nur als Rauschverstärker, sondern auch als Lebensversicherung für harte Zeiten bewiesen.

Löw brachte seine Bewunderung mit diplomatischer Zurückhaltung so zum Ausdruck: "Müller ist ein Spieler, den man irgendwie nicht so richtig fassen kann." Und wenn man ihn doch einmal fast fasst, dann gibt es meistens Elfmeter. So wie in der 68. Minute, als der eben eingewechselte Müller mit seinem bedingungslosen Tordrang in den Strafraum zog und jenes Foul provozierte, das sein Bayern-Kollege Toni Kroos vom Elfmeterpunkt mit dem ersten Ausgleich bestrafte.

Müllers Vorlage zum zweiten Ausgleich durch Cacau (94.) war dann sogar noch ein Stück beeindruckender. Die Polen waren in der Nachspielzeit durch einen Elfmeter von Jakub Blaszczykowski tatsächlich noch einmal in Führung gegangen. Und als eigentlich schon alles vorbei war, setzte Müller zu einem letzten verzweifelten Kraftakt an, der gleichwohl kein bisschen hektisch wirkte. Müller nahm sich bei seinem Dribbling am rechten Strafraumeck die Zeit kurz abzuwarten, bis einer seiner bedauernswerten Gegenspieler, Jakub Wawrzyniak, ausgerutscht war und sich für einen Moment eine kleine Lücke in Richtung Tor auftat. Dann schlug er zu.

Löw hat sich später ausdrücklich darüber gefreut, dass seine Mannschaft bei diesem Test in der baufrischen Danziger EM-Arena auf Widerstände gestoßen sei. So kann allerdings nur ein Trainer argumentieren, der weiß, dass er da einen hat, der diese Widerstände zu brechen versteht. Es ist in diesem Kontext schon oft erwähnt worden und wird trotzdem für immer ein spannendes Rätsel bleiben, wie das WM-Halbfinale gegen Spanien im vergangenen Jahr wohl ausgegangen wäre, wenn dieser Müller dabei keine Sperre abgesessen hätte. Damals war es jedenfalls schlecht, dass er nicht kam.

Nach einer kleinen Post-Südafrika-Krise, die man einem 21-Jährigen nachsehen muss, scheint der Mann mit den Storchenbeinen inzwischen wieder zu seiner WM-Form zurück zu finden. "Ich fühle mich gut im Moment", viel mehr war ihm nach seinem beeindruckenden Auftritt in Danzig nicht zu entlocken. Es war auch so alles gesagt.

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