Süddeutsche Zeitung

Thomas Müller beim FC Bayern:Münchner Herrlichkeit

Thomas Müller hat in seiner Bundesliga-Karriere jetzt 150 Tore vorbereitet - ein Rekord. Nach seiner herausragenden Leistung gegen Bielefeld werden erneut Fragen nach seinem DFB-Comeback laut.

Von Philipp Selldorf, Bielefeld

Diese Szene unmittelbar vor der Halbzeitpause sah nicht unbedingt aus wie ein Moment, der vom Glorienschein der Geschichte illuminiert wurde. Sie sah aus wie eine dieser 1001 Szenen, die man von Thomas Müller schon so oft gesehen hat, nach einem wilden Gewurschtel nämlich, das scheinbar zufällig ein geglücktes Ende genommen hatte. Müller hatte am Strafraum den Ball erhalten, er schlug einen Haken, der ihn in den dicht bewohnten Bielefelder Strafraum und in einen eigentlich ausweglosen Engpass beförderte, weshalb er auf der Stelle die Richtung änderte, was dann aber nur in den nächsten Engpass führte. Gerade, als man dachte, der Vorstoß sei endgültig abgefangen, fuhr er sein rechtes Bein aus, als ob es ein mechanisches Instrument wäre, und spitzelte den Ball hinüber zu Robert Lewandowski.

Dieser traf beim anschließenden Schuss zwar weniger das Ziel als den gegnerischen Abwehrspieler, doch eben dieser Umweg veredelte das Ereignis des Tages. So war das Tor zum 3:0, das Thomas Müller zum Jubilar machte, ein Treffer, der die typische Unterschrift des Geehrten trug: nicht elegant, aber vom unerschöpflich produktiven Eifer des Urhebers geprägt.

Einen Ertrag, wie ihn Müller nun angesammelt hat, vermag allenfalls Özil zu reklamieren

Es kommt nicht allzu oft vor, dass Hansi Flick unaufgefordert einen Spieler hervorhebt, aber nach dem mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit und dennoch lässig herausgespielten 4:1 des FC Bayern bei Arminia Bielefeld hielt er es für angebracht. Robert Lewandowski und Thomas Müller seien "die beiden besten Spieler des Spiels gewesen", stellte Flick fest, ohne in die Statistik des Spieltages geschaut zu haben. Es wäre dann aber ohnehin nicht um Laufleistung und Zweikampfwerte gegangen, auch nicht um die drei Tore, die Müller und Lewandowski in wechselseitiger Co-Produktion gelangen, sondern um eine viel bedeutendere Zahl, die Müller über viele große Geister des Bundesligafußballs erhebt. Die Vorbereitung des 3:0 war seine 150. Torvorlage - seit Beginn der Zählung Ende der 1980er Jahre blickt keiner seiner Kollegen auch nur annähernd auf so ein reiches Werk zurück.

In dieser Disziplin haben sich brillante Fußballer wie Uwe Bein hervorgetan, der Erfinder des tödlichen Passes, oder Zvjezdan Misimovic, der dem VfL Wolfsburg im Jahr 2009 mit 20 meist atemberaubend steilen Vorlagen zum Meistertitel verhalf; auch die Namen Kevin De Bruyne, Mesut Özil und Emil Forsberg stehen in den Jahresbestenlisten. Aber einen Ertrag, wie ihn Müller nun angesammelt hat, vermag allenfalls Özil zu reklamieren. 149 Vorlagen sind für ihn in der deutschen, spanischen und englischen Liga verbucht.

Beinahe wäre der Jubiläumsfall schon früher eingetreten, aber als Müller in der neunten Minute von Lewandowski freigespielt wurde, passierte etwas Außergewöhnliches: Er brauchte, wie er später gestand, "einen Tick zu lang", um Kingsley Coman den Ball zum Einschuss hinzulegen. Doch die Szene nahm dann einen Verlauf, die ebenfalls typisch war für den immerdar von Geistesblitzen gesegneten Angreifer. Aus dem Versuch eines Passes wurde über zwei Banden eine Selbstvorlage. Mit Müllers Worten: "Wie's dann oft so ist im Strafraum, kommt einem der Ball noch mal vor die Füße - und dann muss man gedankenschnell reagieren." Mit dem 1:0 leitete er den nächsten programmgemäßen Auswärtssieg der Bayern ein, und Bielefelds Trainer Uwe Neuhaus sah die Bestätigung all seiner Befürchtungen heraufziehen. Gegen diese perfekt abgestimmte Bayern-Elf, ihr Positions- und Passspiel, hätten alle guten Vorsätze zur energischen Zweikampfführung keine Chance, klagte er: "Du rennst zehn Mal hin, aber acht Mal ist der Ball schon weitergespielt worden, und dann braucht man Mentalität und Geduld für die beiden letzten Zweikämpfe, wo man vielleicht attackieren kann."

Als sich in der zweiten Halbzeit die Münchner Herrlichkeit erschöpfte und Corentin Tolisso beim Versuch, Javi Martínez' Fehlpass einzufangen, die rote Karte verdiente, war es wieder Müller, dem Flick zu Dank verpflichtet war. Eigentlich hätte er Müller nach dessen Pokaleinsatz am Donnerstag ja rausnehmen müssen, sagte Flick, "aber er war neben Lewy unser wichtigster Mann und wusste, wie er nach der roten Karte das Zentrum verteidigte".

So wertvoll und frisch und gedankenschnell wie heute ist der 31-jährige Müller vielleicht noch nie gewesen, doch das hat im Herbst 2019 nicht mal der 30-jährige Müller ahnen können. Damals hat sich niemand beschwert über Joachim Löws Entscheid, den Angreifer aus der Nationalelf zu verabschieden, nun ist die Debatte um die abgebrochene Karriere zum Dauerthema geworden. Alte Helden wie Stefan Effenberg und Lothar Matthäus werden nicht müde, Löw im Befehlston Müllers Rückkehr nahezulegen. Flick beteiligt sich nicht an der Kampagne, aber er kann es seinem früheren Chef nicht ersparen, mit jedem lobenden Wort ebenfalls ein Votum abzugeben; am Samstag waren es so viele lobende Worte, dass die Analyse einer Schwärmerei glich: Wie Müller das Spiel verlagere, wie er die Räume sehe, wie geschickt er sich verhalte, wie er dieses und jenes einfach immer goldrichtig mache.

Müller trägt nichts Essentielles zu der Diskussion bei, aber genießen tut er sie schon. "Darüber", über seine Länderspielkarriere, "wurde sich schon viel unterhalten", teilte er lächelnd mit, "dass ich mich in einer guten Verfassung befinde, das sieht jeder." Er kann warten. Er muss nicht zur nächsten Länderspielrunde im November eingeladen werden, er muss bloß im Frühsommer 2021 der gleiche tragende Hauptdarsteller beim FC Bayern sein, der er jetzt ist. Erst dann würde er Löw vor eine Grundsatzentscheidung stellen.

An der nötigen Kraft, im Juni beim großen Länderturnier mitzumachen, wird's dem offenbar unverletzlichen Hochleistungsmüller kaum mangeln. Die vielen Beschwerden über die Belastungen in der Corona-Situation könne er "nicht nachvollziehen", sagt er: "Unser Programm, des pack ma' scho'."

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Quelle:
SZ vom 19.10.2020/sonn
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