Süddeutsche Zeitung

Thomas Müller im DFB-Team:Abserviert mit 29 Jahren

  • Mit 29 Jahren muss Thomas Müller die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verlassen.
  • Er hat in 100 Länderspielen große Erfolge gefeiert, aber auch viele schwächere Phasen durchlebt.
  • Anders als Podolski und Schweinsteiger durfte Müller seinen Abschied aus dem DFB-Team nicht selbst bestimmen.

Von Carsten Scheele

Die Sache mit dem Abschied ist - retrospektiv betrachtet - bei Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger ganz gut gelaufen. Beide waren jenseits der 30 Jahre. Bundestrainer Joachim Löw hatte im Zweifel eher etwas zu lange an ihnen festgehalten - aus alter Verbundenheit, wie man dem Bundestrainer damals noch unterstellte. Er überließ beiden Nationalspielern den Zeitpunkt selbst, um ihren Abschied aus der DFB-Elf zu verkünden, und als beide gingen (Schweinsteiger 2016, Podolski 2017), waren es sehr versöhnliche Momente.

Das lief bei Thomas Müller, einem Spieler von ähnlichem Heldenrang wie Podolski oder Schweinsteiger, grundsätzlich anders.

Auch Müller gehört zu den beliebtesten und verdientesten Nationalspielern der vergangenen zehn Jahre, doch er hatte bei der Angelegenheit mit dem Abschied nichts mitzureden. Das finale Urteil fällte der Bundestrainer für ihn: Nach exakt 100 Länderspielen (immerhin einem mehr als Michael Ballack) ist Müller raus aus dem DFB-Team, anders lassen sich Löws Worte vom Dienstag nicht deuten. Der Bundestrainer hat dem Stürmer (wie auch Mats Hummels und Jérôme Boateng) für seine Verdienste gedankt, aber er hat ihn eben auch abserviert, denn es klang nicht so, als gäbe es ein Zurück. Der Zeitpunkt ist etwas seltsam, nicht direkt nach der missratenen WM 2018, sondern ein halbes Jahr später. Gerade als es für Müller beim FC Bayern endlich wieder aufwärts zu gehen schien.

Und so wird sich Müller nun auch fühlen: seltsam. Raus mit gerade einmal 29 Jahren, zumindest unter diesem Bundestrainer.

Als Müller bei der WM 2010 seine Großeltern grüßte

Sportlich hat Löw natürlich Argumente, beim Neuaufbau seines DFB-Teams auf Müller zu verzichten. Würdig verlief Müllers Abschied aus der Nationalelf trotzdem nicht. Der Bayern-Stürmer hatte sich in den vergangenen neun Jahren nahezu überlebensgroße Verdienste erworben im Nationalteam. Aufsehen erregte er gleich in seinem ersten Länderspiel im März 2010 (0:1 gegen Argentinien). Danach hielt ihn Argentiniens damaliger Nationaltrainer Diego Maradona auf dem Pressepodium für einen Balljungen, obwohl Müller zuvor fast 70 Minuten vor seinen Augen Fußball gespielt hatte. Müller wurde für die WM 2010 in Südafrika nominiert, wo sich plötzlich nicht nur Maradona, sondern die ganze Welt wunderte, wer dieser forsch aufspielende 20-jährige Bayer mit den krummen Haxen und den noch krummeren Laufwegen war.

Müller war anders. Er kam nicht wie einer dieser hochgezüchteten Jungprofis daher, die diese oder jene Nachwuchsakademie durchlaufen hatten. Er kam vom kleinen TSV Pähl und war in der Jugend zum FC Bayern gewechselt, wo er sich über die Jahre gegen etliche höher veranlagte Konkurrenten durchzusetzen wusste. Auch weil er die Gabe hatte, sich auf dem Fußballplatz einfach mal durchzurackern, wenn andere getrickst hätten. Selbst wenn mancher Stolperer auf dem Hosenboden endete. Aber gerade deshalb wirkt Müller "echt": Auch in den Interviews: geradeaus, schnörkellos, floskelfrei.

Die WM 2010 war Müllers größtes Turnier, er stand stellvertretend für den "Sturm und Drang", der deutschen Fußballern lange nicht mehr attestiert worden war. Die Weltmeisterschaft lief viel erfolgreicher als erwartet, fünf Tore schoss Müller in Südafrika: unter anderem zwei beim 4:1 gegen England (als er im Fernsehen seine beiden Omas und seinen Opa grüßte) und eins im Viertelfinale gegen Argentinien, Müllers vielleicht größtem Spiel im Nationaldress. Schon nach drei Minuten traf er per Kopf, Deutschland besiegte die Argentinier 4:0, eine argentinische Sportzeitung schrieb hernach: "Diego, der Junge heißt Müller!" Maradona wurde am folgenden Tag entlassen, Müller wurde Torschützenkönig und als "bester junger Spieler" der WM ausgezeichnet.

Zur Geschichte, dass Müllers Karriere in der Nationalelf mit gerade 29 Jahren bereits endet, gehört aber auch, dass er nie wieder so anhaltend hochklassig und frisch spielte wie damals mit 20 Jahren in der Kälte von Südafrika. Müller hatte sicher gute Phasen, im Verein beim FC Bayern, wo er vielfach deutscher Meister und 2013 Champions-League-Sieger wurde, auch manche sehr gute. Die WM 2014 war noch mal eine gelungene für Müller: Gleich dreimal traf er im Auftaktspiel gegen Portugal (da gratulierte ihm sogar Maradona), ein weiteres Mal in der Vorrunde gegen die USA und beim 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien gelang ihm der erste Treffer. Unerkannt herumlaufen konnte er nirgends mehr: Müller war einer der prominentesten Stürmer der Welt, am Ende sogar Weltmeister.

Doch Müller hatte auch schwache Phasen, sehr schwache sogar, besonders in den vergangenen Jahren. Wenn er über Wochen lang das Tor nicht traf - da wirkte Müller manchmal schon viel älter als Ende 20. Das Fußballvolk zweifelte beständig an ihm, auch Müller zweifelte manchmal, obwohl er sich das selten anmerken ließ. In der Saison 2016/17 schoss er bei Bayern bloß fünf Tore in 29 Spielen, in der Nationalelf traf er in der aktuellen Spielzeit 2018/19 noch gar nicht. Auch blieb er bei mehreren großen Turnieren ertraglos: bei der EM 2012, der EM 2016, der WM 2018.

Müller findet seine Räume - oder eben nicht

Müllers Einzigartigkeit ist vielleicht auch sein größtes Manko: Er hat keine Kernkompetenz, die ihm auch in schlechten Phasen Tore beschert - ein wuchtiger Kopfball etwa, oder ein rasant schneller Antritt. Bei Müller ist das anders. Findet er seine Räume, spielt er gut - oder er findet sie eben nicht. "Torloser Torjäger" wird er dann genannt, wobei Müller selbst stets betont, dass er seine Leistung nicht an der Anzahl seiner Tore messen lassen will. "Thomas ist immer wichtig für uns", sagte auch sein Teamkollege Arjen Robben, "selbst wenn er den Ball mal nicht trifft."

Einer, der in schwierigen Zeiten immer an ihm festgehalten hatte, war der Bundestrainer. "Müller spielt immer", dieser bekannte Satz, einst geschaffen von Bayern-Trainer Louis van Gaal, galt in der Nationalmannschaft noch, als der Niederländer München längst verlassen hatte. Nun will Löw von dieser deutschen Fußball-Regel nichts mehr wissen. Der Bundestrainer hat entschieden, dass er künftig auf jüngere Spieler setzen will, die ihre Kernkompetenzen deutlicher definieren als Müller. Der ist mit 29 Jahren plötzlich: zu alt. Aus einer anderen Generation.

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