Die Nationalmannschaft hatte 14:0 gewonnen, doch der Teamchef war nicht zufrieden. Franz Beckenbauer neigte damals noch zum Jähzorn und zu öffentlich zelebrierten Wutanfällen, das Publikum liebte seine Polemiken - die Betroffenen nicht so sehr. Diesmal beherrschte er sich. Beckenbauer beließ es nach dem Test-Kick gegen die Amateurauswahl in der Sportschule Hennef bei ein wenig altbackenem Spott ("sie haben wohl geglaubt, sie sind auf dem Waldspaziergang"), und dann widmete er sich der Vorbereitung des Spiels, das er zum wichtigsten Spiel seiner Laufbahn erhoben hatte. Drei Tage später titelte die niederländische Tageszeitung Telegraaf: "Häßler rettet Beckenbauer vor dem Psychiater."
Das Qualifikationsspiel gegen Wales im November 1989 verhalf Deutschland zur Teilnahme an der WM in Italien und dem Siegtorschützen Thomas Häßler zu unvergänglichem Ruhm. Ohne Häßler kein Titelgewinn, so lautet seither die Formel für die Geschichtsbücher. Der Teamchef Beckenbauer hat dieser Auffassung schon ein halbes Jahr später Referenz erwiesen, als er Häßler für das WM-Endspiel gegen Argentinien in die Startelf aufnahm, obwohl dessen Turnierleistung die Ansprüche nicht befriedigt hatte. Beckenbauer fühlte sich jedoch zur Dankbarkeit verpflichtet.
Anlass zum Trübsal bietet sich
Viele, die sich seit damals dem großen und liebenswerten Fußballer Häßler verbunden fühlen, empfinden Schmerz, wenn sie ihn jetzt im Fernseher wiedersehen. Dass sich Häßler den verlorenen Seelen im zynischen "Dschungelcamp" angeschlossen hat, bietet Anlass zu grundsätzlicher Trübsal. Mancher Stammzuschauer hält sich diesmal fern von der Sendung, weil er Häßler darin nicht sehen möchte, und wenn die Fachpresse nach der ersten Woche berichtet, dass er bisher bloß als Faulpelz und Langweiler aufgefallen sei, dann ist diese Kritik steil zu begrüßen, denn gegen den Rauswurf hätte Häßler offenbar nichts einzuwenden. Er habe unterschätzt, worauf er sich eingelassen habe, sagt ein Bekannter aus Berlin, "in diesem Bereich des Entertainments hat er nichts verloren".
Aber warum hat er sich überhaupt für die entwürdigende Mission gemeldet? Wegen 100 000 Euro Honorar? Eher nicht. Häßler hatte sich offenbar seine eigenen Beweggründe geschaffen. Er wollte glauben, das "Dschungelcamp" werde ihm Abenteuer und Herausforderung bieten, "mal was ganz Anderes - weit weg vom Fußball". Seiner persönlichen Logik zufolge hätte er etwas Bereicherndes verpasst, wenn er nicht in den Busch gezogen wäre: "Ich bin jetzt 50. Wenn ich morgen über die Straße gehe und überfahren werde, habe ich nur Fußball gehabt - na toll."
Dass Häßler nach Emanzipation vom Fußball strebt, widerspricht dem gängigen Bild. Bisher hieß es immer und auch in den Kreisen der alten Kameraden, dass Thomas Häßler nur dann glücklich sei, wenn ein Fußball in seiner Nähe ist.
Aber so was ist leicht daher gesagt. Fußball ist nach wie vor sein Leben, und es ist auch kein schlechtes Leben, weil sich das Trainer-Engagement beim Berliner Club Italia für alle Beteiligten rentiert hat. Mit dem Weltmeister als Chefcoach steht Club Italia in der Bezirksliga Staffel 1 nach der Hinrunde auf dem zweiten Tabellenplatz - im Vorjahr war die gleiche Mannschaft knapp dem Abstieg entgangen. Häßler hat den Job von Anfang an ernst genommen; seine Spieler - Studenten, Azubis, Hobbykicker - hat er einem Trainingsprogramm ausgesetzt, als wäre er noch im Berufsfußball. Davon hat das Team profitiert. Der PR-Coup mit dem berühmten Trainer hat dem Verein auch sportlich geholfen.
Andererseits ist es halt die achte Liga. Häßler weiß, wo er gelandet ist, doch es hat Jahre gedauert, bis er bereit war, diese Wahrheit zu akzeptieren. Nach seinen Verirrungen ins Ausland, als Co-Trainer von Berti Vogts in Nigeria und als Technischer Direktor in Iran, kam er resigniert zurück ins Rheinland. Als ihn das Angebot aus den Tiefen des Amateurfußballs erreichte, hat er das keineswegs als Majestätsbeleidigung empfunden: "Wieso soll ich von einem Spitzenjob träumen?", hat er gesagt, "ich weiß, dass ich bei keinem Drittligisten auf der Wunschliste stehe."
Rudi Völler sagt, dass es kein besseres Leben als das Fußballerleben gebe. Weil man "null Verantwortung" habe und den schönsten Beruf der Welt. Aber irgendwann muss man den Rasen halt dann doch verlassen, und dann stellt sich für viele die Sinn- und die Existenzfrage. Die Unterhaltungsprogramme des Privat-Fernsehens sind inzwischen voll von ehemaligen Profis, die ihren Platz im wahren Leben suchen. Vor Häßler waren Eike Immel, Ailton und Thorsten Legat Insassen des Dschungelcamps, das Pensionsheim der Bundesliga ist zum Rekrutierungszentrum für die hämische Horrorshow geworden. Sieht man Tim Wiese dieser Tage als viereckigen Kraftprotz durch die TV-Studios tingeln, schwant einem Böses.
Lattek warnt vor Zukunft als Kapitän einer Berliner Thekenmannschaft
Als Häßler im Alter von 18 Jahren aus Berlin nach Köln kam, fühlte er sich fremd und verloren. Der FC drückte ihm einen Vertrag in die Hand und ließ ihn dann allein. Am Anfang ist er ein halbes Dutzend Mal umgezogen, weil er sich nirgendwo wohlfühlte, seine Ernährung bestand aus Cola, Chips und Hamburgern, er lebte chaotisch und hatte Übergewicht. Dann nahmen ihn ältere Kollegen wie Toni Schumacher und Paul Steiner in Verwahrung, bei den Schumachers saß er fortan regelmäßig am Esstisch, im Familiensitz an der Krankenhausstraße in Hürth feierte er Weihnachten. Und dann traf er in Köln außer seiner fürsorglichen Frau Angela immer wieder Leute, die ihn davor bewahrten, sein Talent zu verschleudern: die Trainer Hannes Löhr und Christoph Daum, die ihn förderten und forderten, und den Sportchef Udo Lattek, der im richtigen Moment die letzte Warnung aussprach, indem er ihm die Zukunft als Kapitän einer Berliner Thekenmannschaft ausmalte.
Aus diesen Anfängen ist eine große Karriere mit 101 Länderspielen geworden, Häßler wurde Welt- und Europameister, er behauptete sich in der Serie A bei Juventus Turin und AS Rom und wechselte am Ende in die österreichische Liga, um die Laufbahn zu verlängern. Doch dann ließ sich der Übertritt in die verflixte zweite Lebenshälfte nicht mehr aufschieben. Mit der Anlehnung an andere ist es vorbei. Beim 1. FC Köln versorgte man ihn mit einer Alibi-Tätigkeit, was keinem nutzte, und der DFB unterhält zwar einen Klub der Nationalspieler, dessen Mitglieder sich zweimal im Jahr am Rande von Länderspielen zum fröhlichen Beisammensein treffen. Doch ein Sozialamt betreibt der DFB nicht.
Beim Club Italia in Berlin stört es die Leute nicht, wenn die RTL-Zuschauer den Weltmeister in Shorts und Unterhemd für langweilig halten. In Berlin wünschen sie sich, dass Häßler schnellstmöglich wieder mit der Arbeit beginnt. Ende Februar beginnt die Rückrunde mit dem Auswärtsspiel beim VfB Hermsdorf II. Es ist bloß Bezirksliga. Aber es ist Fußball.