Süddeutsche Zeitung

FC Bayern:Vier Chancen zum Glänzen für Thiago

Lange sah es so aus, als würde sich Thiago Alcántara still aus München verabschieden. Nun bekommt der feine Taktgeber doch noch einmal die große Bühne.

Von Benedikt Warmbrunn

An sein womöglich letztes Heimspiel für den FC Bayern vor Zuschauern wird sich Thiago Alcántara eher nicht lange erinnern, und das lag nicht am fehlenden Enthusiasmus der insgesamt 200 Zuschauer. Gebannt verfolgten sie das Geschehen auf dem Rasen, wenn es etwas zu bejubeln gab (einmal), jubelten sie artig; einer von ihnen rauchte erstaunlich ausdauernd seine Wasserpfeife. Thiago und seine Mitspieler aber hatten nur wenig von diesen engagierten Fans. Denn diese wurden eingeblendet auf einer LED-Wand.

Der FC Bayern, der sonst im Sommer gerne in die Ferne reist, für eine Tournee nach China oder in die USA, bietet im Corona-Sommer eine digitale Tournee an. In deren Rahmen verloste einer der Sponsoren für das Testspiel am vergangenen Freitagnachmittag gegen Marseille 200 Plätze auf der LED-Wand (Teilnahmebedingungen: unter anderem eine stabile Internetverbindung sowie eine Webcam). Die 200 blickten dann zu Hause in ihre Bildschirme, und obwohl sie dadurch in gewisser Weise auch von der LED-Wand in Richtung Rasen blickten, wollte das alles nicht reichen, um die von den Spielern sehnsüchtig vermisste Stadionatmosphäre zu ersetzen.

Diese digitale Tournee, davon gehen zumindest sehr viele im Verein aus, ist auch der Beginn einer Abschiedstournee für Thiago, und der Lauf der Geschichte (beziehungsweise eine Sprunggelenksverletzung von Benjamin Pavard) hat es ihm noch einmal ermöglicht, auf die große Bühne zurückzukehren. Wenn eben auch weiterhin ohne im Stadion anwesende Fans.

Thiago hat diese Chance zumindest im Test gegen Marseille auch genutzt, um sein unnachahmliches Können zu demonstrieren. Bei dem 1:0-Sieg hatte kein Spieler so viele Ballkontakte wie er, keiner spielte mehr Pässe, keiner spielte mehr Pässe, die ankamen. Und niemand führte so viele Zweikämpfe. "Man sieht, dass er auch in der freien Zeit hart gearbeitet hat", lobte Trainer Hansi Flick.

In den vergangenen Monaten war der 29 Jahre alte Thiago in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verdrängt worden. Leon Goretzka und Joshua Kimmich bildeten vor der Abwehr ein Kraftzentrum, das perfekt zu passen schien zum Powerfußball, wie ihn Flick bevorzugt. Thiago, der zwischendurch verletzt war, wurde kaum vermisst. Außer von den Mitspielern, von denen viele anerkennen, dass niemand im Kader fußballerisch so begabt ist wie Thiago. Und von Trainer Flick, der Thiagos Kreativität sehr schätzt, trotz der gelegentlichen Schnörkel.

Dann aber verletzte sich Pavard, und Flick musste seine Startelf umbauen, erstmals gegen Marseille. Kimmich kehrte zurück auf seinen früheren Posten des Rechtsverteidigers. Und Thiago durfte wieder vor der Abwehr spielen. An diesem Modell dürfte Flick festhalten, bis Pavard sich gesund meldet - was sicher nicht vor dem Rückspiel im Achtelfinale der Champions League an diesem Samstag gegen Chelsea der Fall sein wird. Und voraussichtlich auch nicht vor dem Start in das Champions-League-Endturnier, das in der nächsten Woche in Lissabon beginnt.

Bis zu vier Spiele hat die Saison für den FC Bayern noch. Für Thiago sind es vier Chancen zum Glänzen - nachdem es zuvor so ausgesehen hatte, als würde er sich ganz still aus München verabschieden.

Dass Thiago den Klub verlassen will, hat er selbst öffentlich noch nicht gesagt - Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge aber hat es oft thematisiert, zuletzt in einem Interview mit dem TV-Sender Sky. "Ich bin gar nicht sauer, ich mag ihn", sagte er zu Thiagos Wechselplänen: "Ich finde, er ist ein toller Fußballer, ein feiner Fußballer, und er ist auch ein guter Charakter." Und wenn dieser feine Kerl noch einmal wechseln wolle, dann müsse er das in diesem Sommer machen, "weil wenn man die Drei vorne stehen hat, dann wird es schwierig, Transfers zu bewerkstelligen". Außerdem würde der FC Bayern nur in diesem Sommer noch eine Ablöse kassieren, aber darum ging es Rummenigge bestimmt nicht bei seinem überschwänglichen Lob.

Wohin es Thiago ziehen wird, steht weiterhin nicht fest, Liverpool gilt als interessiert, laut des französischen Magazins Le10Sport ist es auch Paris Saint-Germain. Die anstehenden Champions-League-Partien kann Thiago also nutzen, um alle Bewerber davon zu überzeugen, dass er weiter einer der feinsten Taktgeber Europas ist. Kimmich gibt dem Auftritt der Münchner eine gewisse Geradlinigkeit, mit seinen schnellen Chipbällen über die gegnerische Abwehr hinweg.

Thiago verleiht dem Münchner Spiel dafür mehr Künstlertum, mit Pässen in alle verborgenen Winkel des Feldes, dazu mit Dribblings. Und das alles erledigt er mit einer Lässigkeit, als würde er sich gleich wieder zu seiner Wasserpfeife setzen. In "hervorragender Form" sei Thiago, lobte Flick, dem auch dessen Zusammenspiel mit Goretzka gefallen hatte: "Sie haben ihre Position gut gehalten, waren immer anspielbar, auch wenn es eng wurde, um dann zu verlagern."

Der Ausfall von Pavard, betonte Flick, sei "nicht ganz so einfach". Aber dass er nun Thiago spielen lassen kann, darüber wollte er sich nicht beschweren. Flick weiß ganz genau, was dem Münchner Spiel ohne Thiago schon in ein paar Wochen fehlen könnte.

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SZ vom 03.08.2020/jbe
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