Thiago und der FC Bayern:Saudade beim Außergewöhnlichen

Bleibt Thiago in München? Die Bayern behaupten, ihm alle seine Wünsche erfüllt zu haben. Doch offenbar reizt ihn der Gedanke, eine neue Liga auszuprobieren.

Von Javier Cáceres, Berlin

Thiago Alcántara, 29, wurde im italienischen Apulien geboren, verbrachte seine Kindheit im nordspanischen Vigo, wurde zeitweilig bei CR Flamengo in Rio de Janeiro ausgebildet und beim FC Barcelona groß, ehe er 2013 zum FC Bayern ging.

Trotz seiner wechselnden Wohnorte (und den Einsätzen für Spaniens Nationalelf) hat sich Thiago eine brasilianische Seele bewahrt, in der ein Phänomen namens Saudade keine geringe Rolle spielt. "Alle Saudade ist die Gegenwart/von Abwesenheit", dichtete Gilberto Gil, einer der Gründungshelden der Música Popular Brasileira; und es spiele keine Rolle, ob sie plötzlich über einen kommt oder schleichend, ob es ein Mensch, ein Ort oder irgendetwas anderes ist, was einem fehlt. Am Samstagabend in Berlin nach dem Pokalsieg gegen Leverkusen (4:2) nahm Bayern-Trainer Hansi Flick Thiago in den Arm, und wer die Herzlichkeit sah, kam kaum umhin zu vermuten, dass da auch Saudade im Spiel war.

Seit Wochen wird spekuliert, dass Thiago den FC Bayern verlassen könnte. Dabei hatte seine letzte öffentliche Äußerung zu seiner beruflichen Zukunft unterstrichen, wie wohl er sich in München fühlt: Der FC Bayern wäre ein wunderbarer Klub, um eine Karriere zu beenden, sagte Thiago im Mai der spanischen Zeitung La Vanguardia. Danach nahm er offenbar auch staunend wahr, wie die Sticheleien vor allem via Bild-Zeitung zunahmen, die darin gipfelten, dass ein früherer Bayern-Profi, Mehmet Scholl, sagte, Thiago sei ihm "nicht als Bayern-Gen-Experte in Erinnerung". Derselbe Thiago wohlgemerkt, der seit 2009 in nur einem Jahr nicht mit seiner jeweiligen Mannschaft Meister wurde, in der Saison 2011/12 mit dem FC Barcelona. Es wird ihm kaum als Zufall erschienen sein, dass Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge ebenda, in der Bild, erkennen ließ, dass Thiago seinen begnadeten rechten Fuß im Türsims hat.

"Wir haben mit ihm seriös verhandelt und haben ihm alle seine Wünsche erfüllt. Doch es sieht so aus, dass er zum Ende seiner Karriere noch einmal etwas Neues machen möchte", sagte Rummenigge am Vorabend des Pokalfinales. In der Zeitung Sport aus Barcelona hatte es ergänzend geheißen, der FC Liverpool sei sich mit dem Spieler einig, gefeilscht werde nun mit dem FC Bayern um Ablöse und Zahlungsmodalitäten. Thiagos Vertrag läuft im kommenden Sommer aus.

Flick kämpft für Thiago und Alaba

Für den FC Liverpool ergäbe ein Zugang vom Schlage Thiagos Sinn. Dieser würde das Stilrepertoire des englischen Meisters um jene Ruhe, Ballsicherheit, Spielfreude und Zweikampfstärke erweitern, die Bayern-Trainer Flick sah, nachdem er Thiago in den letzten Minuten des Pokalfinales aufs Feld geschickt hatte. Und das sind Elemente, die bei Flick auch jetzt schon Züge von Saudade auslösen: "Für mich ist Thiago ein außergewöhnlicher Spieler. Das weiß er, das habe ich ihm auch so noch einmal gesagt. Man hat gesehen, dass er sich zu 100 Prozent mit dem Verein identifiziert", erklärte er. Vor allem aber ließ aufhorchen, dass er ankündigte, sich "mit allem, was ich habe, dafür einzusetzen", dass dem FC Bayern Thiago und auch David Alaba erhalten bleiben. Was nichts anderes heißen kann, als dass er die Klubverantwortlichen davon überzeugen will, ihre Verträge zu verlängern - und sie im Zweifel mit Gold und Myrrhe zu überhäufen.

Denn so wie er Thiago seit Wochen lobt, so deckt er auch Alaba mit Komplimenten ein. Aber: Während Flick im Falle Thiagos skeptisch klang und davon sprach, dass es "menschlich" sei, wenn ein solcher Spieler damit liebäugele, eine weitere große Liga zu erleben, nachdem er beim FC Barcelona und dem FC Bayern triumphiert hat, so wirkte er im Falle Alabas frohgemut. Was ihn nicht davon abhielt, ihn mit immateriellen Werten zu locken.

"Man kann in einem Verein, in dem man ausgebildet wurde, seine Karriere beenden. Das kommt nicht mehr allzu oft vor", sagte Flick. Wie wichtig es ihm war, auch öffentlich zu hinterbringen, dass die Wertschätzung für Alaba "riesengroß" sei, konnte man an einem Detail erkennen. Denn nachdem der Moderator der Pressekonferenz am Samstag eigentlich schon die nächste Frage aufgerufen hatte, riss Flick das Wort noch einmal an sich, um seine Gedanken zu Alaba zu hinterlegen. Womöglich stehen die Chancen auf einen Verbleib tatsächlich gut. In der Vergangenheit hieß es oft, dass Alaba, 28, mit Barça und Real Madrid kokettiere. Doch nach den pandemiebedingten Einnahmeausfällen sind beide Spitzenklubs der spanischen Liga zur Transfermarktabstinenz gezwungen - und der FC Bayern würde an mögliche Kunden nicht einmal die Mehrwertsteuersenkung weiterreichen wollen.

Havertz? Eher nicht, finden die Bayern

Umgekehrt haushaltet der FC Bayern gerade auch vorsichtig. Da man sich dort bereits Leroy Sané leistet, verzichtet man darauf, in einen Bieterwettbewerb um Leverkusens Kai Havertz, 21, einzusteigen. Havertz ließ vor allem in der zweiten Halbzeit erkennen, dass er ein Typ Spieler ist, der imstande ist, auf dem Rasen Fußball zu säen. Und auch wenn sein Elfmeter zum 4:2-Endstand bloß noch Kür war, weil er erst in der Nachspielzeit zur Aufführung kam, so blieb dieser Treffer in seiner Vollendung eine Augenweide.

Ob der FC Bayern für ihn wirklich je die einzige Top-Option war, um den nächsten Schritt zu gehen, bleibt dahingestellt. Sicher ist dies: Er sieht sich schon länger dazu gerüstet, sein Talent im Zweifelsfall auch im Ausland zur Entfaltung zu bringen.

In Leverkusen kann Havertz kaum bleiben: der Werksklub verfehlte die Champions League. Auch er stand bei Barça und Real auf dem Zettel, doch weil diese derzeit nicht flüssig sind, bleiben im Grunde nur Interessenten von der britischen Insel. Der FC Chelsea, der gerade Timo Werner von RB Leipzig geholt hat, als stärkster Interessent - und Leverkusen hatte in der Vorpandemie-Phase noch einen Preis oberhalb der 100-Millionen-Euro-Grenze aufgerufen. Ob ein solcher Betrag in der Krise Bestand hat, ist fraglich; ebenso, ob ein möglicher Abnehmer wirklich geneigt wäre, ihn für Leverkusen in der Europa League spielen zu lassen. Zur Erinnerung: Der FC Chelsea und RB Leipzig konnten über einen Einsatz von Werner in der Champions League für Leipzig keine Einigung erzielen.

Ob das Pokalfinale die Abschiedsvorstellung von Havertz war, wurde Leverkusens Trainer Peter Bosz nach dem 2:4 gefragt. Er legte sich fest: "Nein, das glaube ich nicht." Doch ob er recht behält, wird sich erst noch weisen, womöglich schon bald.

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