Ter Stegens Gegentor aus 55,5 Metern:Opfer des eigenen Spiels

AS Roma vs FC Barcelona

Gegentor aus 55,5 Metern: Marc-André ter Stegen (hinten).

(Foto: dpa)

Von Christopher Gerards

Ja gut, hat Thomas Müller irgendwann zugegeben, sein Schuss sollte eigentlich eine Flanke sein. Der Ball verrutschte ihm jedoch, er flog nicht auf den Kopf von Robert Lewandowski, er flog einfach ins Tor. Müller lachte mehr als dass er jubelte, vielleicht glaubte er, beim 3:0 des FC Bayern gegen Olympiakos Piräus den verrücktesten Treffer des ersten Champions-League-Spieltags gemüllert zu haben.

Aber da hatte er noch nichts von Alessandro Florenzi gehört.

55,5 Meter - aus dieser Entfernung schoss Florenzi, Außenstürmer des AS Rom, das 1:1 gegen den FC Barcelona. Er war die Seitenlinie entlanggelaufen, hatte mit Verve geschossen, der Ball wurde immer länger, senkte sich im richtigen Moment - und sprang vom Pfosten ins Netz. "Das Tor wird in Erinnerung bleiben", sagte Florenzi später angemessen euphorisch. Doch sein Satz galt nicht nur für den Torschützen des AS Rom, er galt auch für den leidtragenden Torhüter des FC Barcelona: Marc-André ter Stegen.

Ter Stegen als Prototyp des Torhüters der Gegenwart

"Natürlich ist das ein eindeutiger Torwartfehler", hat Franz Beckenbauer später bei Sky geurteilt, und seine Worte hatten, wie so oft, etwas Letztinstanzliches. Beckenbauer wies nicht darauf hin, dass ter Stegen schon Mitte August im Ligapokal einen Weitschuss nicht hatte halten können, gegen Bilbao, damals aus 47 Metern. Er hielt seine These auch so für hinreichend begründet: "Wenn du aus 60 Metern ein Gegentor kassierst, wer soll dann schuld sein - der lieber Gott?" Allerdings kamen manche Menschen, die nicht Franz Beckenbauer heißen, zu einem anderen Schluss: ter Stegen hatte keinen Fehler gemacht. Er war ein Opfer seiner eigenen Klasse geworden.

"In der heutigen Zeit ist das kein Torwartfehler" - diesen Satz hat Oliver Kahn im ZDF gesagt. Kahn arbeitet dort als Fußball-Experte, und in der Diskussion um ter Stegen bringt er eine gewisse Autorität mit. Er war früher selbst Torhüter, genau genommen war er einst der beste Torhüter der Welt. Als Kahn noch im Tor stand, hatte ein Torhüter präzise eine Aufgabe: Bälle halten. Er musste die Linie bewachen und manchmal den Strafraum, das war's. Kahn konnte das besser als andere, er ist der Prototyp des Torhüters der Vergangenheit.

Kahn nimmt ter Stegen in Schutz

Marc-André ter Stegen ist, neben Manuel Neuer, der Prototyp des Torhüters der Gegenwart. Hauptberuflich muss er Bälle fangen, das schon, aber daneben verdingt er sich als Aufbauspieler und Libero. Er kann Pässe mit links spielen und mit rechts, er läuft lange Bälle ab, bevor ein Gegner sie annehmen kann. "Ter Stegen macht das ja sehr extrem", sagte Kahn, "dass er immer weit vorgeht, dass er mitspielt, dass er viele Situationen schon vorher klärt."

Ter Stegens Spiel ist nach Meinung von Kahn so fortschrittlich, dass es zwangsläufig ein Restrisiko enthält. Auch Mitspieler Gerard Piqué nahm den deutschen Torwart in Schutz: Es sei kein Fehler gewesen, "ter Stegen hilft uns Innenverteidigern sehr durch sein offensives Spiel".

Zehn Gegentore in vier Spielen

Der 23 Jahre alte ter Stegen erlebt ohnehin eine seltsame Zeit in Barcelona. Vergangene Saison war er aus Mönchengladbach gekommen. Er bestritt kein Ligaspiel, Barcelonas Nummer eins hieß Claudio Bravo, 32. Ter Stegens Fachbereiche waren der nationale Pokal und die Champions League, in beiden Wettbewerben gewann er Titel. Eigentlich hatte ter Stegen auch in dieser Saison in der Liga zusehen sollen, dann verletzte sich Bravo. Er fällt noch rund drei Wochen aus.

Die Zeitung Mundo Deportivo nutzte Florenzis Treffer nun für einen Vergleich: Insgesamt zehn Gegentore in vier Spielen habe ter Stegen kassiert: vier Stück im europäischen Supercup gegen Sevilla, vier Stück im spanischen Supercup in Bilbao, eins in der Liga gegen Atlético Madrid und nun wieder ein. Claudio Bravo dagegen nur eines in drei Spielen. Es klang so, als sollte Barcelonas Trainer Luis Enrique Claudio Bravo ins Tor stellen, sobald er wieder spielen kann. "Ich als Trainer würde meinem Torwart da keinen Vorwurf machen", sagte hingegen Kahn: "Ich würde sagen: Ist passiert, aber ich will trotzdem, dass du dein Spiel genau so weiterspielst."

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