Süddeutsche Zeitung

Marc-André ter Stegen:Ohnmächtiger Zuschauer im Barca-Tor

Marc-André ter Stegen erlebt einen bitteren Abend gegen die Bayern, dabei trifft ihn bei den acht Gegentoren keine direkte Schuld. Ausgerechnet Manuel Neuer versucht, Trost zu spenden.

Von Philipp Selldorf, Lissabon

An seinen letzten Länderspieleinsatz wird sich Marc-André ter Stegen sicherlich noch erinnern, obwohl seitdem viel Zeit vergangen ist und obwohl er sich womöglich gar nicht so gern erinnert an diesen Abend in Frankfurt im November des vorigen Jahres. Deutschland gewann 6:1, aber ter Stegen hielt in 90 Minuten keinen Ball. Der einzige Schuss auf sein Tor war drin.

Der Torwart Alexander Nübel, damals Schalke 04, inzwischen FC Bayern, hatte vor dem Fernseher gesessen und in den Gedanken des Kollegen gelesen: "An seiner Stelle würde ich denken: Es kann doch nicht sein, dass ich schon wieder so ein Spiel gemacht habe. Drei Spiele im Jahr - und ich kassiere jedes Mal ein Tor." Jeder Fußball-Freund in Deutschland kennt ja inzwischen die nahezu tragisch unglückliche Geschichte, die ter Stegen seit vielen Jahren mit der Nationalmannschaft verbindet. Als wäre es ein Stück aus der Hochliteratur, so steht ter Stegen vor dem Tor und findet weder den Weg hinein noch den Grund heraus, warum er es nicht schafft.

Am Freitagabend in Lissabon versuchte ihm nun ausgerechnet jener Mann Trost zu spenden, an dem er beim DFB partout nicht vorbeikommt. Es täte ihm "etwas leid für Marc, dass er so viele Tore kassiert hat", sagte also Manuel Neuer ohne Überheblichkeit und aus der Sicht des Experten, weil er ja weiß, dass sein Herausforderer beim DFB ähnlich denkt wie er selbst: dass nämlich unabhängig vom Spielgeschehen jedes Gegentor als persönliche Kränkung aufzufassen ist. Für ter Stegen waren es acht Gegentore, insofern war ihm nicht nach Trost zumute, sondern nach Flucht und ewigem Vergessen. Man sah ihn noch fassungslos an der Tür der Kabine stehen, in der ein genauso fassungsloser Lionel Messi saß, dann senkte sich der Vorhang. Über sein Befinden hat ter Stegen keine Auskunft gegeben.

Wie es in ihm aussah, das ließ sich während des Spiels von den Rängen des Estadio da Luz aber mindestens erahnen, denn ter Stegen sendete durch seinen Körper und sein Verhalten Signale der Verweigerung, die nicht zu übersehen waren. Wie der originale Messi hatte auch der "Messi mit Handschuhen", wie man ihn in Anerkennung seiner besonderen Fähigkeit in Katalonien getauft hat, die Lust verloren.

Dienst nach Vorschrift

Während Messis Unlust sich darin äußerte, dass er zum Beispiel einen Freistoß ins Nichts chippte, als ob es ja sowieso egal wäre, bestand ter Stegens Protest darin, die Gegenwehr und Verteidigungsbereitschaft auf das Nötigste zu beschränken, man könnte von Dienst nach Vorschrift in deutscher Tradition sprechen. An den Münchner Treffern trug er keine direkte Schuld, nicht mal am 1:2, das Ivan Perisic aus spitzem Winkel erzielte, was den Torwart ein wenig verwundbar aussehen ließ. Ter Stegen war noch mit der Fußspitze am Ball, aber der Schuss war hart und obendrein ein wenig abgefälscht. Das Wort unglücklich passt ebenso zu der Szene wie zur Situation des Betroffenen.

Ter Stegen hat keine großen Worte gemacht vor diesem zum Privat-Duell stilisierten Treffen mit dem Konkurrenten Neuer. Gesprochen haben andere. Bayern-Chef Karl-Heinz Rummenigge provozierte ein bisschen ("Manuel ist Weltklasse, ter Stegen auf dem Weg dorthin"), Leon Goretzka kündigte diplomatisch die Begegnung der "beiden besten Torhüter der Welt" an, und Bundestorwart-Trainer Andy Köpke kam nicht umhin, zuzugeben, dass die Situation der Torhüter "besonders brisant" sei.

Es bestand für ter Stegen durchaus die Chance zu punkten im ewigen Wettstreit, aber seine Mannschaft ließ ihn im Stich und er war wieder nur der ohnmächtige Zuschauer eines Spiels, das seinen Ruf beschädigt. Wie so oft, wenn er sich mal dem Publikum im Heimatland zur besten Sendezeit präsentieren darf, liefen die Dinge anders als gewünscht. Das nächste Länderspiel soll übrigens im September in Stuttgart gegen Spanien stattfinden. Es dürfte klar sein, wie dann die Aufgabenverteilung zwischen Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen aussehen wird.

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