Siebenmal trat Alexander beim berühmtesten Turnier im Tennis an, siebenmal schaffte er es nicht bis ins Viertelfinale, das ist natürlich eine Bilanz in Wimbledon, die ihm als Topspieler nicht gefällt. Bei den Grand-Slam-Veranstaltungen in Melbourne, Paris und New York stand er jeweils mindestens im Halbfinale, bei den French Open jüngst sowie den US Open (2020) erreichte er gar die Endspiele. Legendär war trotz seines stets verhältnismäßig frühen Scheiterns im All England Club mancher seiner Auftritte, wenngleich nicht alle Auffälligkeiten sportlicher Natur waren.
2018, die Beziehung des damals 21-Jährigen zu dem Rasenklassiker war auf dem Tiefpunkt, wurde er vom Letten Ernests Gulbis mit 0:6 im fünften Satz vorgeführt. Unvergessen Zverevs Pressekonferenz danach, als er sich großspurig mit den Worten verabschiedete: „Ich bin auf dem Boot in Monte Carlo, ihr werdet mich hier nicht mehr sehen.“ Von seinem Sport, so fügte er an, wolle er an seinem Wohnort „mit Sicherheit“ erst mal ein paar Tage nichts wissen. Als sei Wimbledon eine ansteckende Krankheit, vor der es sich zu isolieren galt.
Zuneigung per einstweiliger Verfügung, das mag erzwungen klingen, ist es aber nicht.
Dieses eigenwillige Rasentennis, nein, das war nicht seine Sache. Irgendwie kam er mit seinen langen Beinen und den flach abspringenden Bälle auf dem Weidelgras nicht klar, so manche Tennislegende ist ja auf diesem Belag schon verzweifelt, der Zähne fletschende Ivan Lendl etwa gewann alles, nur Wimbledon nie. Es mussten tatsächlich sechs Jahre ins Land ziehen, bis ein kleines Wunder geschah – und Zverev neue Emotionen in sich entdeckte. „Ich habe über die Jahre so meine Probleme hier gehabt. Aber ich fühle mich jetzt anders“, meinte der gereifte 27-Jährige schon vor dem Start dieser 137. Championships an der Church Road: „Früher habe ich aus irgendeinem Grund immer gesagt, dass ich Rasenplätze nicht mag. Jetzt habe ich entschieden, dass ich sie liebe.“
Zuneigung per einstweiliger Verfügung, das mag erzwungen wirken, aber nach seinen beiden donnernden Siegen gegen die überforderten Roberto Carballés Baena (Spanien) und Marcos Giron (USA) drängt sich der Verdacht auf, dass Zverev dank des Theorems der selbsterfüllenden Prophezeiung ein bahnbrechender Durchbruch in seinem bislang zwiespältigen Verhältnis zu Wimbledon gelungen ist.
„Man muss einen Weg finden, auch ohne schönes Tennis zu gewinnen“
Auch Michael Kohlmann staunt gerade über diese offenbar fruchtende Strategie. „Er hat sich eingeredet, er kann nicht auf Rasen spielen, und diesmal hat er sich eingeredet, er kann spielen“, sagte der Bundestrainer und Davis-Cup-Teamchef am Freitag auf der Anlage: „Ich glaube wirklich, dass das, was er da gesagt hat, dass er hier jetzt zurechtkommt, auch zutreffen könnte“.
So wie Zverev zudem klang, fußt seine veränderte Geisteshaltung auf tieferen, sehr pragmatischen Überlegungen. „Man muss den Rasenplatz irgendwo mögen. Ich habe ihn nicht gemocht“, erklärte er und schlussfolgerte: „Man muss akzeptieren, dass das Spiel vielleicht nicht so schön ablaufen wird wie auf anderen Belägen. (...) Das muss die Mentalität sein, irgendwie einen Weg zu finden, auch ohne schönes Tennis zu gewinnen.“
In einem Punkt hat sich Zverev indes hübsch selbst ad absurdum geführt: Ansehnlich war sein Spiel in dieser Woche allemal, und es würde schon überraschen, sollte er in der dritten Runde gegen den Briten Cameron Norrie seine souveräne Linie auf dem Platz plötzlich einbüßen.
Das geschlossene Dach kommt Zverev entgegen: „Ich spiele wie bei einem Hallenturnier.“
Für Zverev sprechen auch die äußeren Umstände: „Momentan sind die Bedingungen perfekt, ohne Wind, ohne Sonne, ich habe zweimal unter dem Dach gespielt“, sagte er und gab zu: „Ich spiele wie in einem Hallenturnier momentan. Das liegt mir auch, da muss man ehrlich sein.“ Aufgrund hoher Nieselwahrscheinlichkeiten hatten sich die Turnierverantwortlichen dazu entschlossen, am Donnerstag den Court No. 1 wetterfest zu verschließen, an diesem Samstag dürfte das Dach über den beiden Hauptstadien wieder ausgefahren bleiben, es soll regnen.
Spielerisch ist eine Weiterentwicklung Zverevs auf Rasen nicht zu übersehen. „Sein Vorhandreturn ist viel besser“, fiel Kohlmann auf, „er bewegt sich besser, er steht besser.“ Vor allem aber hat es Zverev geschafft, einen Schlag, der vor zwei Jahren noch störanfällig wie die Züge der Deutschen Bahn war, derart zu stabilisieren, dass er ihn wie ein Trickspieler jederzeit aus der Tasche ziehen kann. „Er mixt den Aufschlag sehr gut, mal mit dem Slider raus, dann schnell durch die Mitte, er trifft die Ecken gut“, analysierte Kohlmann und schwärmte: „Er hat einfach eine gute Mischung, wo es für den Gegner schwer ist, ihn zu lesen. Er kriegt ganz viele freie Punkte – das ist überragend.“ Noch etwas fiel ihm auf: „Er wirkt so ein bisschen lockerer. Auch die ganze Box.“ Zum Kreis des Zverev-Teams, das in den Stadien stets zusammen in einem abgetrennten Bereich sitzt, zählen Vater Alexander, Bruder Mischa, Manager Sergej Bubka und Freundin Sophia Thomalla.
Noch hatte Zverev nicht die schwersten Gegner aus dem Weg zu räumen, der Serbe Novak Djokovic (der beim Auftakt nicht überzeugte), der Spanier Carlos Alcaraz sowie der Italiener Jannik Sinner bleiben die Akteure, die es zu besiegen gilt. Aber dann bauen die Buchmacher in London schon auf Zverev. Und der gebürtige Hamburger fühlt sich auch wohl in diesem Lauermodus: „Wenn ich dieses Level weiterhin zeigen kann, das ich in den ersten beiden Spielen gezeigt habe ... dann mag ich meine Chancen.“