Süddeutsche Zeitung

Emma Raducanu in Wimbledon:Ihre Mission: eine Tennis-Nation ausflippen zu lassen

Emma Raducanu, 18 Jahre alt und Nummer 338 der Weltrangliste, stürmt als jüngste Britin ins Achtelfinale - dabei paukte sie kürzlich noch für den Schulabschluss.

Von Gerald Kleffmann

Timothy Peake hat mal etwas Einmaliges erlebt. 2016 machte er als erster britischer Astronaut einen Weltraumspaziergang. Wobei das alles andere als gemütlich war, damals, auf der Raumstation ISS, zu deren Besatzung der heute 49-Jährige aus Chichester gehörte. "Ziemlich surreal" fand er den Ausflug, "wundervoll" und "aufregend". Zu Hause auf der Erde wurde Peake natürlich gefeiert, aber es ist verständlich, dass ein Mensch, der eine solche Erfahrung genoss, fortan andere Maßstäbe im irdischen Leben hat. So schnell ist so einer nicht zu beeindrucken. Am Samstag aber musste er sich zu Wort melden. Wegen Emma Raducanu, einer 18 Jahre jungen Frau, geboren in Toronto, der Vater Rumäne, die Mutter Chinesin, ihre Flagge: Great Britain, seit dem Umzug auf die Insel in frühen Kinderjahren. Ihre Mission: eine Tennis-Nation ausflippen zu lassen.

"Glückwunsch", twitterte Peake also an seine 1,5 Millionen Follower, "zu deinem fantastischen Sieg. Was für ein Debüt!" Astronauten, wen wundert's, quatschen einem nicht die Ohren voll, im All wäre das wohl auch ungünstig. Sie haben die Gabe, Wichtiges vom Unwichtigem zu unterscheiden. Und so stach Peakes Botschaft unter all den vielen Jubelarien, die dieser Tage den britischen Kosmos durchdringen, besonders hervor, wobei sich aber auch jene, die Zeit ihres Lebens den blauen Planeten nie verließen, einig waren: "A star is born!" Gemeinhin klingen solche Zeilen schwer nach Boulevard, aber exakt diese Worte wählte selbst der reservierte All England Club in einer Mitteilung. Andy Murray, der dreimalige Grand-Slam-Sieger, ist raus, ausgeschieden gegen den Kanadier Denis Shapovalov. Nahtlos macht nun die bis vor kurzem unbekannte Emma Raducanu weiter und wühlt ihr Land auf. "Der Himmel ist die Grenze", befand überschwänglich Nigel Sears, der nicht nur Murrays Schwiegervater ist, sondern auch ihr bedächtiger Trainer.

John Lloyd erzählte, Wimbledon wollte Raducanu erst gar keine Wildcard geben

Noch ist Emma Raducanu vier Siege davon entfernt, eine Erfolgsgeschichte wie Maria Scharapowa zu feiern, die als 17-Jährige in Wimbledon triumphierte. Aber die erfrischende und mutige Art, wie sie sich hier als bislang jüngste Britin ins Achtelfinale siegte, erinnert an die Auftritte der Russin 2004. Und auch an Heather Watson, 29, in die seit einigen Jahren die Briten ihre Hoffnungen setzten, die aber bislang noch nicht ganz die Erwartungen erfüllen konnte.

"Wie ein Erdbeben", so urteilte Tracy Austin, die sich als einstige Hochbegabte mit dem Phänomen sogenannter Wunderkinder auskennt, in der Daily Mail über Raducanus Erscheinen. Der frühere britische Spitzenprofi John Lloyd verriet in der selben Zeitung, Wimbledon habe erst Bedenken gehabt, einem Teenager, der seit März 2020 kein Profiturnier gespielt hatte, die Nummer 338 der Weltrangliste ist und jüngst für den Schulabschluss paukte, eine Wildcard auszuhändigen. Der britische Tennisverband LTA , der Raducanu seit langem fördert und schon immer Großes in ihr sah, wollte das aber so. Schließlich ließ sich der Veranstalter überzeugen, ihr diese Startzusage nicht nur für die Qualifikation zu geben, sondern gleich fürs Hauptfeld. Vor Wimbledon hatte Raducanu in Nottingham erstmals wieder ein Turnier gespielt und Eindruck hinterlassen.

Ohne Satzverlust bezwang Raducanu in Wimbledon die wesentlich höher postierten Witalia Diatschenko (WTA-Nr. 152) aus Russland, die frühere French-Open-Finalistin Marketa Vondrousova (42.) aus Tschechien und die Rumänin Sorana Cirstea (45.). Als Raducanu am Samstag den Matchball zum 6:3, 7:5 verwandelt hatte, sank sie nieder, das Foto von diesem Kniefall-Augenblick ist jetzt schon ikonisch. So reif ihr aggressives, hartes Grundlinienspiel ist, so sehr steckt aber, klar, noch die Jugend in ihr. "Als ich meine Sachen packte für die Zeit hier in der Blase, meinten meine Eltern: Packst du nicht zu viele Tennis-Outfits?" Das erzählte sie herrlich unbeschwert beim Interview auf dem Platz. Sie sortierte einiges aus, weshalb sie, da immer noch im Turnier, nun ein Problem hat: "Ich muss heute Nacht einiges waschen." Sie kicherte los, und die mehr als 10 000 Zuschauer auf dem Court No.1 lachten mit. Auch mit ihrem natürlichen Charme hat sie alle erobert.

Sie wollte Bestnoten in Mathe und Wirtschaft - sie schrieb sie

Eine außergewöhnliche Person ist Raducanu in jedem Fall, selbst wenn sie erst am Anfang einer womöglich großen Zukunft steht. "Sie bringt alle nötigen Qualitäten mit. Das habe ich vom ersten Tag an gesehen", betonte Sears. Ihr Ehrgeiz sticht neben ihrem Talent heraus. Was auch immer sie anging, sie wollte gut sein. Im Guardian erzählte sie, dass sie vieles ausprobierte, sie ritt und schwamm, machte Stepptanz, spielte Basketball, ihr Golfschwung ist hervorragend. Als Achtjährige begann sie auch Go-Kart zu fahren. Als sie vor Wimbledon auf einer Mädchenschule ihre Abschlusstests schrieb, in Mathe und Wirtschaft, wollte sie mit Bestnoten abschließen. Gelang ihr. Im Internet tauchte auch ein Video einer verbissenen Trainingssession von Raducanu mit Andy Murray auf. Ihr durchtrainierter Körper hat sich nicht von alleine gebildet. Und der Erfolg, so sehr er jetzt überrascht, auch nicht. Sie hat ihn sich genommen, auf gewisse Weise.

Wimbledon kann ja wirklich in seiner Opulenz auch als Anlage einschüchtern, vieles brach schon mit dem Erstrundensieg über sie herein. Doch sie scheint mit allem umgehen zu können. "Irgendjemand muss ja in der zweiten Woche sein", hatte sie in Wimbledon dieser Tage gesagt und sich gefragt: "Warum nicht ich?" Ja, warum nicht? So kernig und zielstrebig war sie ihr Debüt angegangen. Diese Emma Raducanu liebt zweifellos die große Bühne. "Ich freue mich, wieder vor allen zu spielen", sagte sie. Womöglich wird an diesem Montag dann auch wieder der Astronaut Timothy Peake zusehen.

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