Süddeutsche Zeitung

Novak Djokovic:Ein Zeugnis fast absurder Dominanz

Dass der Serbe das Männertennis beherrscht wie zuletzt Roger Federer in den Nullerjahren, liegt an seiner größten Stärke: Sein Kopf ist komplett auf Erfolg programmiert.

Von Gerald Kleffmann

Bislang war man davon ausgegangen, dass es das nur in Filmen gibt: eine Tür, die direkt ins Gehirn eines anderen Menschen führt. Being John Malkovich, so hieß das Werk, in dem ein Puppenspieler hinter einem Schrank einen Weg findet, um in den Kopf des besagten Schauspielers zu gelangen. Der tatsächlich vom genialen John Malkovich verkörpert wurde. Einmal denken, fühlen, empfinden wie eine dritte Person, das ist etwas, das nach wissenschaftlichem Ermessen ja eher nicht praktizierbar ist. Umso erstaunlicher war das, was am Abend dieses 11. Juli in einem gedämpften Raum auf der Anlage eines Tennisvereins namens All England Lawn Tennis and Croquet Club geschah.

Da saß ein Mann, die Augen leuchteten beseelt, der Körper asketisch, grüne Kappe. Dachte man, dass das, was vorher zu sehen gewesen war auf dem Centre Court vor 15 000 Zuschauern, etwas Besonderes gewesen sei, kam man nun aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Mann, der dort saß und Fragen von Menschen beantwortete, die aus Bildschirmen zu ihm sprachen, machte wirklich eine Tür auf. Lud die Welt herein. Zu einem Besuch. In seinem Kopf. Kommen Sie! Entdecken Sie mich! Being Novak Djokovic. Ich erkläre Ihnen, wie der erfolgreichste Profi des Männertennis tickt.

Vor ein paar Jahren verlor er eine Weile lang seine Galligkeit - und wirkte verwundbar

25 Minuten dauerte der Erkenntnistrip. Es war eine dieser klassischen Situationen im Tennis, die beim vorletzten Grand-Slam-Turnier in Paris so sehr im Fokus standen. Die japanische Spitzenspielerin Naomi Osaka hatte das Prozedere dieser Medienrunden als einen der Gründe genannt, warum sie mentale Probleme im Alltagsgeschäft habe; sie stieg dann aus den French Open aus. Die Macht aber, wie weit eine Seelenöffnung geht, das zeigte auch der vergangene Sonntag wieder, liegt immer noch bei den Profis. Es gab auch Zeiten, vor vier Jahren, da war Djokovic verschlossener. Die Welt rätselte damals darüber, wer dieser Pepe Imaz sei, sein Einflüsterer, der Liebe und Frieden predigte, offenbar zu viel. In jener Phase, just nachdem Djokovic vier Grand-Slam-Titel jahresübergreifend errungen hatte, verlor er jene egoistische Galligkeit, die es für den Erfolg braucht.

Acht Grand Slams in Serie blieb Djokovic ohne Pokal, von Ehekrise wurde geschrieben, er verlor Gewicht, eine Ellbogenverletzung kam hinzu. Würde er je wieder erstarken? Heute muss man über solche Zweifel lachen. Seit Wimbledon 2018 liest sich seine Bilanz wie ein Zeugnis fast absurder Dominanz: Er stand in neun von zwölf Finals, in Melbourne, Paris, Wimbledon, New York. Acht Titel holte er. Eine solche Ausbeute hatte zuletzt Roger Federer, als der Schweizer von 2004 bis 2007 elf Grand Slams gewann. Djokovic bestreitet jetzt seine 328. Woche als Nummer eins der Weltrangliste. Rekord, klar.

Nun, nach dem 6:7 (4), 6:4, 6:4, 6:3 am Sonntag gegen den Pracht-Römer Matteo Berrettini, 25, war es für Djokovic an der Zeit, zurückzublicken auf seine "unglaubliche Reise". Nicht als Fazit, nur als Zwischenresümee. Er ist on the run, wie man sagt. Weiter, weiter. Kann er als Nächstes wirklich jene Tat vollbringen, die letztmals 1969 dem Australier Rod Laver gelang? Alle vier Grand Slams in einer Saison gewinnen? Die US Open also dann im September? "Ich werde es natürlich versuchen", sagte er. "Ich bin in großartiger Form." Das muss man ihm auch anrechnen: Er spielt seine Ambitionen nicht herunter.

Aber wie sollte das auch gehen, bei den Ergebnissen. Ständig geht es um Rekorde. Alte, neue, hier, dort. Der 17. Slam-Titel also, nein, 18., stopp, 19. - Quatsch, jetzt der 20., tatsächlich erstmals auf Augenhöhe mit Roger Federer und Rafael Nadal, die brav am Sonntag in superwinzigen Tweets gratulierten, immerhin. Jetzt reden schon alle vom 21. Titel, ein Wahnsinn, dieses Tempo. Auch deshalb, weil zwischendurch Djokovic ja auch die großen Gedanken runterdimmen muss. Und pragmatisch schauen muss, dass sein Rückhand-Slice nicht zwei Zentimeter zu weit fliegt.

Being Novak Djokovic. Wie also sieht das aus, wenn er alleine auf dem Platz steht?

Er ist, man ahnte es, auch auf dem Platz permanent in Gedanken. Und beim Analysieren. Multitasking im Hirn. Erster Satz, er führt 5:2, verliert dann aber 6:7. Enttäuscht? Schon, aber auch: "Ich fühlte Erleichterung ... ich wollte einfach nur, dass der Satz vorbei ist, damit ich beginnen kann, frei durch den Ball zu schwingen und so zu spielen, wie ich es wollte." Darauf muss man erst mal kommen. Nur: Widerstände blockieren ihn eben nicht. Sie bewirken das Gegenteil. Und so ist begründbar, wie er sich ständig aus brenzligen Lagen befreit. Fehlerlos ist ja auch er nicht. Manchmal schwankt sein Spiel, als sehnte er sich nach Widerständen, um sein Bestes zutage zu fördern. Nicht ohne Stolz befand er, dass seine größte Stärke die Fähigkeit sei, "mit Druck umzugehen".

Momentan zerschellen die Konkurrenten an seiner mentalen Stärke

Inzwischen muss man bei ihm schon einen Pawlow'schen Reflex diagnostizieren, nur sieht der beim weltbesten Tennisprofi anders aus. Er spürt ein Problem, sucht eine Lösung, vollendet. Reihenweise war es zuletzt wieder zu beobachten, wie seine fähigen Gegner ab einem gewissen Punkt an ihm zerschellten. Vor allem mental. "I'm pissed", sagte Berrettini aus tiefstem Herzen und sicher stellvertretend für Stefanos Tsitsipas (French-Open-Finalist) und Daniil Medwedew (Australian-Open-Finalist). Sogar Rafael Nadal zerbarst im Juni auf seinem Lieblingsplatz in Paris an Djokovic.

Erstaunlich ist dabei, dass Djokovic während eines Grand Slams keineswegs nur im Tunnel lebt. In Wimbledon redete er über seine Liebe zu Wölfen, bei anderen Gelegenheiten war sein Arbeitskampf mit der Spielergewerkschaft PTPA sein Referatsthema. Er muss oft irgendetwas loswerden. Nur auf dem Platz, da ist er mehr denn je bei sich. Und genau diese Gabe ist sein Weg zur Dominanz. Sagt er selbst: "Es ist wirklich eine konstante Arbeit, immer wieder zu versuchen, die Gedanken nur auf den gegenwärtigen Moment zu richten. Ich fühle, dass das die größte Arbeit bei mir einnimmt ... Wenn du präsent bist, Dinge erfährst und sehr einfach betrachtest, ist es nur ein Tennismatch, ist es nur der nächste Punkt, du bist da - dann bist du in der Lage, das Beste zu leisten."

Being Novak Djokovic - es ist eine komplexe Aufgabe. Goran Ivanisevic, der 2001 als Spieler in Wimbledon gewann und nun als Trainer mit Djokovic, meinte jüngst, für den 34-Jährigen zu arbeiten, sei auch anstrengend. Es gehe stets ums Aufspüren von Aspekten, die ihn besser machten. Einmal schwor Djokovic auf die vielleicht etwas obskure Theorie eines Esoterikers, der meinte, man könne verunreinigtes Wasser mit Gedanken reinigen. Alles Makulatur. "So komplett wie jetzt war ich wohl in meiner ganzen Karriere noch nie", sagte Djokovic. Wer das nicht glaubt, muss nicht mal in seinen Kopf reisen. Die Rekordlisten sprechen für sich.

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