Süddeutsche Zeitung

Tennis in Wimbledon:Ein Rock mit Geschichte

Die Weltranglistenerste Ashleigh Barty erinnert in London an ihre indigenen Wurzeln und ihr Vorbild Evonne Goolagong Cawley. Ihre Halbfinalgegnerin Angelique Kerber hat ihre eigenen Quellen der Motivation.

Von Barbara Klimke

In diesem Sommer hat Ashleigh Barty mit tiefem Ernst über Knopfleisten und Rocksäume geplaudert. Es war zunächst ein etwas abwegiges Thema. Von Ashleigh Barty, 25, der Weltranglistenersten, ist bekannt, dass sie anschaulich über die Vorteile von Slice-Rückhand oder Schlagwinkeln referieren kann. Sie galt bislang als unverdächtig, sich als Modefan, als eine Fashionista, wie die Australier sagen würden, auch nur Gedanken über die Farben ihrer Tennissocken zu machen. Nun aber war es ihr ein Anliegen zu erklären, was es mit diesem Outfit auf sich hat. Und Ashleigh Barty erzählte: über das Kleid von Evonne Goolagong Cawley, über das weiße Kleid mit Bogensaum, das einen ganzen Kontinent veränderte.

Dieses Kleid hat ihrem eigenen Dress als Vorlage gedient. Und Barty wird es, zu Ehren von Evonne Goolagong Cawley, auch am Donnerstagnachmittag (14.30 Uhr) im Halbfinale gegen Angelique Kerber wieder tragen.

In diesem Juli ist es fünfzig Jahre her, dass Evonne Goolagong aus Barellan, einem Dorf im australischen Outback, auf dem Wimbledon-Rasen triumphierte. 19 Jahre war sie damals alt und hatte zuvor schon den Titel von Paris gewonnen. Sie habe "allen Australiern einen Weg" vorgegeben, sagt Ashleigh Barty. "Aber uns, den indigenen Familien und dem Kulturkreis, hat sie gezeigt, dass es die Möglichkeit gibt, seine Träume zu verwirklichen."

Evonne Goolagong hat den Australiern vorgeführt, was Chancengleichheit heißt

Denn selten dürfte der Pfad ins Rasenreich von Wimbledon, zur Royal Box und den manikürten Plätzen, für eine Athletin verschlungener gewesen sein als für Evonne Goolagong, das dritte von acht Kindern einer Aborigine-Familie der Wiradjuri. Es war eine Reise in eine andere Hemisphäre und in eine andere Welt. Ihr erster Tennisschläger hatte keine Saiten, der Vater sägte ihn in einem Stück aus dem Holz einer alten Obstkiste aus. Die kleine Evonne schlug Bälle gegen Hauswände. Und als sie eines Tages sehnsüchtig durch den Zaun des örtlichen Tennisklubs spähte, bat der Vereinspräsident sie herein. Diese Einladung dürfte in den 1950er-Jahren auch in Australien keine Selbstverständlichkeit gewesen sein.

Später wechselte sie nach Sydney, wo sie persönliche Förderer fand, die ihre Karriere vorzeichneten. Evonne Goolagong gewann sieben Grand-Slam-Titel im Einzel, davon zwei in Wimbledon; den letzten 1980 gegen Chris Evert aus den USA, als sie schon mit dem Briten Roger Cawley verheiratet und Mutter war. Aber es war vor allem das erste Finale 1971, als Goolagong, "The Sunshine Supergirl", mit Anmut und Eleganz ihre Landsfrau Margaret Court schlug, 6:4, 6:1. In einem Kleid, das ganz Australien inspirierte.

Sie spielte leichtfüßig, mit Smashs und Volleys, und ohne erkennbare Anstrengung: "Ich wollte das Leben genießen", sagte sie später, "und ich wollte die Blumen am Wegesrand riechen." Das weiße Kleid war ihr Lieblingsdress. Sie hatte den Schnitt selbst bei Ted Tinling in Auftrag gegeben, einem ehemaligen Schiedsrichter, der in jenen Tagen, als es noch keine Sponsorenoutfits gab, zum Modeschöpfer für die Spitzenspielerinnen wurde. Sie ist begeistert, dass Ashleigh Barty, die zur Ngarigo-Gemeinschaft zählt, heute daran erinnert, was in den Saum der gemeinsamen Geschichte verwebt ist.

Sie kennen einander seit Jahren, weil die Weltranglistenerste großen Anteil an Goolagongs Stiftung nimmt, die zum Ziel hat, Mädchen aus indigenen Familien zu Tennisspielerinnen und Trainerinnen auszubilden. Und das Replika-Dress, das Bartys Ausrüsterfirma schneiderte, nimmt, strenggenommen, nur einige Elemente des Originals auf. Die Botschaft aber bleibt dieselbe.

Einem großen Traum läuft auch Barty noch hinterher

Evonne Goolagong hat den Australiern laut Barty vor fünfzig Jahren vor Augen geführt, was Chancengleichheit wirklich heißt: "Ihre Art, die Matches in Wimbledon anzugehen, war ein mutiger Schritt ins Unbekannte", sagt sie: "Niemand aus ihrem kulturelle Erbe hatte das vorher getan. Sie hat uns gezeigt: Egal, was die Leute sagen, man kann an seine Träume glauben, man kann die Träume ins Universum setzen. Denn man weiß nie, was passiert, wenn man gewillt ist, daran zu arbeiten."

Einem großen Traum läuft auch Barty noch hinterher: Sie hat 2019 die French Open gewonnen, aber Wimbledons Pforten haben sich bisher stets recht früh hinter ihr geschlossen. Erstmals spielt sie nun im Halbfinale, und wenn ihr Angelique Kerber, 33, gegenübersteht, die dieses Vergnügen bereits zum vierten Mal genießt (2012, 2016, 2018) und vor drei Jahren auf dem Centre Court siegte, wird sie jede Inspiration benötigen, die sie erhaschen kann. "Das ist der ultimative Test", glaubt Barty, weil sie gegen eine Kontrahentin spielt, die nicht nur auf ihre Erfahrung zählen kann, sondern die sie auch als eine der zähesten Wettkämpferinnen kennt. "Angies größte Stärke ist, dass sie rennt, dass sie den Ball jagt, dass sie in brenzligen Situationen meine aggressiven Schläge neutralisieren kann", sagt Barty. In Wimbledon fühlt sie sich gefordert wie nie.

Angelique Kerber hingegen freut sich auf das Duell. Sie freut sich auf den Rasen, die Gegnerin, die Gewissheit, sich einer Herausforderung zu stellen, der sie sich nach den Erfolgen in den fünf Matches zuvor wieder gewachsen fühlt. "Ich muss mein bestes Tennis spielen, und sie wird mich dazu antreiben", sagt sie. Und wenn Ashleigh Barty die Kraft aus dem Saum der Geschichte spürt, dann hat Kerber in ihrem weißen Kleid eine eigene Motivation: Sie hat ja schon erlebt, dass sie in so einem Dress gewinnen kann.

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