Alexander Zverev stand entspannt auf dem Rasen, grinste, dann schaute er hoch zur Royal Box, einem abgetrennten Bereich hinter der Grundlinie auf dem Centre Court, in dem adelige und sonstige Prominenz sich niederlässt. Während dieser verregneten ersten Turnierwoche in Wimbledon wurden auf der Tribüne schon Sir Cliff Richard, Foo-Fighters-Frontmann Dave Grohl, David Beckham und diverse Menschen mit Titeln gesehen, deren komplizierte Namen auch Evelyn Hamann in einem Sketch von Loriot nicht aussprechen konnte. Die Briten stehen ja auf Titel.
Zverev hatte es in diesem Moment deutlich leichter, er musste nur „Pep“ ausrufen, und jeder der gut 14 000 Zuschauer wusste, wer gemeint war. „Als ich Pep sah, war ich so nervös einige Spiele lang“, sagte Zverev ins Mikrofon, und der angesprochene Pep Guardiola strahlte fast so wie bei seinen 1000 Trophäen, die er als Fußballspieler und Trainer gewonnen hat. Zverev, ein vorzüglicher Redner auf Englisch, setzte noch einen drauf als launiger 6:4, 6:4, 7:6 (15)-Sieger dieses Drittrunden-Matchs gegen den Briten Cameron Norrie und meinte: „Bayern München braucht einen Trainer, Mann. Wenn du keine Lust mehr auf Fußball hast, kannst du mich jederzeit auf dem Tennisplatz trainieren.“ Da war das Gelächter groß.
Später plauderten die beiden, der Hamburger mit Wohnsitz Monte Carlo und der Katalane, noch ein paar Minuten lang, und es fiel, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte des ältesten Tenniswettbewerbs der Welt, das Wort „Leverkusen“ im Klubhaus. Zverev hatte beim Austausch mit Guardiola gefachsimpelt, Leverkusen sei stark gewesen in der abgelaufenen Bundesligasaison. Die beiden verabschiedeten sich wie Freunde.
Zverev hat den Aufschlag verbessert. Die Folge: mehr Verlässlichkeit, mehr Variabilität
Die große Bühne ist zweifellos die, auf der sich Zverev zu bewegen weiß; Patricio Apey, sein ehemaliger Manager, mit dem er im Streit auseinanderging, hatte schon früh betont, Zverev sei geboren dafür, in den Arenen zu Hause zu sein. Der Weltranglistenvierte, der neuerdings dem Rasenbelag, mit dem er oft genug haderte, seine neue Liebe gesteht, macht bislang bei der 137. Wimbledon-Auflage einen spielerisch nahezu unbesiegbaren Eindruck. Norrie, der Zverev wenigstens zum Match-Ende hin noch in einen packenden Tiebreak verwickelte, bezeichnete dessen Niveau als „unwirklich“.
Zverev darf somit zu Recht hervorheben, dass er diesmal seine „Chancen hier mag“, er sprach vom möglichen Titelgewinn. Einzig aufgrund einer unglücklichen Aktion im zweiten Satz gegen den Linkshänder Norrie beim Stand von 6:4, 2:2 hat sich die Situation für Zverev leicht modifiziert. Er selbst schilderte dies bei der Pressekonferenz, zu der er humpelnd mit bandagiertem linken Knie erschien, so: „Ich wollte einen Richtungswechsel und wieder Richtung Mitte laufen, um das Netz zu covern, ja, und bin halt durchgerutscht. Mein Knie hat sich überstretcht.“ Natürlich waren Erinnerungen aufgekommen an seinen Unfall vor zwei Jahren, als er im Halbfinale der French Open gegen Rafael Nadal ebenfalls bei einem Rutschmanöver umgeknickt war, sieben Bänder im rechten Knöchel waren damals gerissen.
„Ich glaube nicht, dass es etwas so unfassbar Ernstes sein kann, sonst hätte ich auch nicht so weitergespielt, wie ich gespielt habe“, sagte Zverev bereits vor der genaueren Untersuchung und gab vorerst leichte Entwarnung. Am Sonntag hatte er sich dann auch für eine Trainingseinheit auf einer Anlage außerhalb des All England Clubs angemeldet. Sein zehn Jahre älterer Bruder Mischa Zverev, der als sein Manager fungiert, ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet. Bei Amazon Prime, die ihn als Experten angeheuert haben, sprach aber Mischa Zverev natürlich, dort bestätigte er am Abend: Das Knie seines Bruders hält.
Zverevs Klasse drückte sich auch dadurch aus, dass er quasi auf einem Bein Norrie in Schach hielt. Er fühlte sich ja tatsächlich „limitiert in meinen Bewegungen“, sagte er und verriet: „Ich bin nicht jedem Ball hinterhergelaufen.“ Es ist vor allem sein Aufschlag, der ihm ein völlig neues Selbstverständnis auf dem Platz verleiht. Bis 2020 war die Spieleröffnung, wie er einräumte, „eine Schwäche von mir“, die sich in einer Flut von Doppelfehlern ausdrückte. Seine Ursachenforschung ergab: „Ich habe den Ball viel, viel zu hoch geworfen. Ich glaube, jetzt bin ich einen halben Meter tiefer.“
„Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich in letzter Zeit wirklich alles dafür tue, um erfolgreich zu sein“, sagt Zverev
Bis heute führt er eine seiner schmerzlichsten Niederlagen auf sein altes Bewegungsmuster zurück. „Das muss man sich erst mal vorstellen: Zwei Meter groß und man verliert ein Grand-Slam-Finale wegen seinem Aufschlag. Das ist für mich schon bitter gewesen“, sagte Zverev, sich ans US-Open-Herzschlagfinale 2020 gegen den Österreicher Dominic Thiem erinnernd. Heute sackt er beim Aufschlag im Treffmoment des Balles nicht mehr in sich zusammen. Die Folge: mehr Verlässlichkeit, mehr Variabilität, schwer für den Gegner zu lesen. Die Effizienz ist beeindruckend, er verlor in drei Matches kein Aufschlagspiel. Landete sein erster Aufschlag im Feld, machte er zu 88 Prozent den Punkt. Norrie hatte genau null Breakchancen.
Der Amerikaner Taylor Fritz, sein kommender Gegner, weiß, dass Zverevs Aufschlag im Achtelfinale am Montag ein Faktor sein wird: „Wenn ich herauskomme und ein schlechtes Aufschlagspiel spiele, gibt ihm das viel Selbstvertrauen für sein Aufschlagspiel, er muss dann nur noch den Aufschlag halten“, sagte der Weltranglistenzwölfte, der in Wimbledon zweimal gegen Zverev verloren hat, 2018 und 2021: „Es ist wichtig, dass ich gut aufschlage, um Druck auf seine Aufschlagspiele auszuüben.“ Das ist sicher leichter geplant als umgesetzt, Norrie stellte gerade verwundert fest: „Ich dachte, ich hätte wirklich gut gespielt, aber ich kam nicht wirklich bei seinen Aufschlagspielen rein.“
Zverev, der – wie Bundestrainer Michael Kohlmann feststellte – auch lockerer wirkt, hat seine Finalniederlage jüngst bei den French Open gut verarbeitet, seine Einstellung dieser Tage klingt jedenfalls nicht verkehrt: „Ich habe das Gefühl, dass ich in letzter Zeit wirklich alles dafür tue, um erfolgreich zu sein“, sagte der 27-Jährige. „Und dass ich alles dafür tue, um hoffentlich irgendwann auch so ein Turnier zu gewinnen. Dann muss auch das Resultat zu einem alleine kommen. Dann brauchst du nicht jeden Tag zittern, ob es jetzt kommt oder nicht.“