Wimbledon-Sieger AlcarazAkrobatische Planierraupe

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Weil er auf dem Weg zurück an die Weltspitze noch kraftvoll andere Kollegen wegbeißen will: Carlos Alcaraz zeigt sich in Wimbledon hungriger denn je.
Weil er auf dem Weg zurück an die Weltspitze noch kraftvoll andere Kollegen wegbeißen will: Carlos Alcaraz zeigt sich in Wimbledon hungriger denn je. (Foto: Julian Finney/Getty Images)

Carlos Alcaraz macht im Wimbledon-Finale klar, dass er bereit für die Führungsrolle im Tennis ist. Auch Novak Djokovic muss einsehen, dass das Machtgefüge in der ersten Hälfte dieses Jahres endgültig gesprengt worden ist.

Von Gerald Kleffmann, London

Natürlich mussten diese Fragen kommen. Himmelsstürmer können ja nicht einfach ihres Amtes walten und dann annehmen, die Welt lasse das kalt. So begannen schon die Hochrechnungen an diesem Sonntagabend, wobei es absurd anmutete, von Carlos Alcaraz nun gleich 25 oder 30 Grand-Slam-Titel zu erwarten, wie es ein britischer Reporter einfach in den Raum stellte in der Pressekonferenz. Einerseits.

Andererseits deuten einige unwiderlegbare Fakten darauf hin, dass da gerade eine Karriere an Fahrt aufnimmt, für die es kaum Grenzen zu geben scheint. 21 Jahre alt ist Alcaraz, zum vergleichbaren Zeitpunkt ihres Lebens konnten die drei besten männlichen Akteure des Tennissports noch keine vier Triumphe in der wichtigsten Turnierkategorie vorweisen. Mit 21? Hatte der Spanier Rafael Nadal drei Grand-Slam-Siege. Der Serbe Novak Djokovic einen. Roger Federer keinen einzigen. Mit 21? Hatten nur drei Profis seit Beginn der Open Ära, der Einführung des Profitennis im Jahr 1968, ein Quartett an Major-Erfolgen verbucht, die Schweden Björn Borg und Mats Wilander sowie Boris Becker, der mal der deutsche Himmelstürmer war. Nun also reiht sich Alcaraz, der auf den Plätzen derart akrobatisch herumturnt und dynamisch den Schläger schwingt, als wäre er Mitglied im Cirque du Soleil, in diese Galerie ein.

Dass er die hohen Erwartungen, die er selbst geweckt hat, gut kanalisieren kann, bewies er sogleich nach seinem planierraupenhaften 6:2, 6:2, 7:6 (4)-Sieg im Endspiel gegen Djokovic, womit er seinen ersten Titel in Wimbledon aus dem Vorjahr verteidigte. „Ich weiß nicht, was mein Limit ist, und will nicht darüber nachdenken“, sagte Alcaraz und lächelte. „Ich will einfach nur den Moment genießen und weiter träumen. Mal sehen, ob es am Ende meiner Karriere 25, 30, 15, vier sein werden. Ich weiß es nicht.“

Cool unter Druck: Je schwieriger die Schläge, desto mehr Spaß scheint Carlos Alcaraz zu haben. Für diesen Stunt scheint er sich noch einmal „Mission: Impossible“ angeguckt zu haben.
Cool unter Druck: Je schwieriger die Schläge, desto mehr Spaß scheint Carlos Alcaraz zu haben. Für diesen Stunt scheint er sich noch einmal „Mission: Impossible“ angeguckt zu haben. (Foto: Paul Childs/Reuters)

Das Profitennis ist generell in Phasen der Dominanz eingeteilt, prägende Persönlichkeiten gaben und geben der Branche stets Orientierung. So gab es die Epochen mit Björn Borg, John McEnroe und Jimmy Connors, mit Becker, Andre Agassi und Pete Sampras, mit den als Big Three geadelten Überfliegern Djokovic, Nadal und Federer. 2024, und diese Saison lässt sich nicht anders deuten, hat das Duo Alcaraz (gewann Paris und Wimbledon) und Jannik Sinner (Melbourne) das Machtgefüge ihrer namhaften, gealterten Konkurrenten endgültig gesprengt.

Federer vergnügt sich bei Taylor-Swift-Konzerten, Nadal will im richtigen Moment aufhören, und Djokovic ist zwar noch da, aber nicht mehr so, wie man es gewohnt war

Wobei Federer, der zurzeit wahrscheinlich vergnügteste Tennisrentner auf Erden und gerade bei einem Taylor-Swift-Konzert gesichtet, seit zwei Jahren nicht mehr aktiv ist. Nadal, zeit seines Lebens öfter verletzt als fit, müht sich, einen würdigen Ausgang aus seiner einmaligen Karriere zu finden. Und Djokovic hat auch eine erstaunliche Entwicklung genommen. Er ist noch da, aber nicht mehr so, wie man es gewohnt war.

Im vergangenen Jahr, es wirkt Ewigkeiten her, siegte er bei den Australian Open, den French Open, den US Open, in Wimbledon fing ihn nur Alcaraz in einem intensiven Fünfsatzmatch ein. Das Gefühl damals: Wer sollte ihn dauerhaft stoppen? Diesen fittesten, erfolgsgetriebensten Grundlinien-Puncher, der auf pflanzliche und glutenfreie Ernährung setzt und manchmal auf einen, wie er sagt, „Zaubertrank“ zurückgreift, dessen Inhaltsstoffe er öffentlich nicht genauer spezifiziert.

Willensstärke bewies Djokovic auch im All England Club, schließlich hatte er vor sechs Wochen bei den French Open einen Meniskusriss erlitten, ein Eingriff war erforderlich. Auch wenn seine Auslosung günstig für ihn war, hatte er es wieder geschafft, ins Endspiel zu kommen, in sein unglaubliches 37. Grand-Slam-Finale. Mit dem achten Wimbledonsieg hätte er mit Federer gleichgezogen. Mit dem 25. Grand-Slam-Sieg wäre er geschlechterübergreifend zum alleinigen Besten aufgestiegen. Nur die frühere Spielerin Margaret Court aus Australien hat, wie er, 24 Grand-Slam-Titel gewonnen. Djokovic spielt längst für die Geschichtsbücher. Doch, und das ist 2024 neu: Seine Begierde nach Erfolgen kann auch nicht kaschieren, dass der Körper anfälliger wirkt. So ist das wohl im hohen Tennisalter von 37 Jahren.

Novak Djokovic ist ein Sportler, der sich am besten über Rivalitäten definiert – aber wie soll das klappen, wenn er einem Gegner so viel Achtung auf dem Platz und jenseits davon entgegenbringt wie Carlos Alcaraz?
Novak Djokovic ist ein Sportler, der sich am besten über Rivalitäten definiert – aber wie soll das klappen, wenn er einem Gegner so viel Achtung auf dem Platz und jenseits davon entgegenbringt wie Carlos Alcaraz? (Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Die Times schrieb zu Alcaraz’ Finalsieg: „Es fühlte sich an, als hätte Tyson in seiner Blütezeit Stücke aus einem verblassenden Star herausgerissen.“ Gemeint war der frühere Schwergewichtsboxer Mike Tyson. Ganz so martialisch betrachtete Djokovic seine Niederlage im Eiltempo von 2:27 Stunden nicht, er bewies aber einen realistischen Blick. „Er war einfach besser als ich in jedem Aspekt des Spiels“, sagte er über Alcaraz, „in der Bewegung, in der Art, wie er den Ball einfach wunderbar geschlagen hat. Er hat großartig aufgeschlagen.“

„Es war heute unvermeidlich, dass er gewinnt“, gibt Djokovic zu

Kurz hatte sich Djokovic aufgebäumt. „Ich habe versucht, mich im dritten Satz durchzukämpfen und zurückzukommen“, sagte er. Bei 4:5 und 0:40 hatte er drei Matchbälle abgewehrt, ein Hauch vom alten Djokovic-Spirit war spürbar. Aber das war es dann. „Es war heute unvermeidlich, dass er gewinnt“, gab Djokovic zu. „Er kam einfach mit einer besseren Tennisqualität auf den Platz. Es ist so einfach, wie es ist.“ Sein nächstes Ziel sind die Olympischen Spiele in Paris, und Djokovic versicherte, dass er auf jeden Fall nicht zeitnah aufhören werde: „Ich möchte weitermachen, solange ich das Gefühl habe, auf diesem hohen Niveau spielen zu können.“

Alcaraz indes wird, neben Sinner, der Fixstern im Tennis bleiben, zu seiner spielerischen Klasse gesellt sich ja nun Reife. „Ruhiger“ habe er sich im Vergleich zum Wimbledon-Finale 2023 gefühlt, bestätigte er. Er sank nach dem verwandelten vierten Matchball auch nicht fassungslos auf den Rasen. Er ist vertrauter mit der Rolle des Champions, und man kann schwer davon ausgehen, dass er nicht abheben wird, bei allen Hymnen. „Es ist wichtig, solche großen Titel zu gewinnen“, sagte sein Trainer Juan Carlos Ferrero, „aber wir versuchen, ruhig und demütig zu bleiben und weiterzuarbeiten.“ Alcaraz assistierte: „Ich muss mich entwickeln und verbessern.“ Wer will schon bei vier Grand-Slam-Siegen hängen bleiben? So denken eben die Großen.

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