Wimbledon:Alle spüren die Magie

Wimbledon

Trainingseinheit zweier Größen: Roger Federer, 39, (links) und Andy Murray, 34, brachten sich gemeinsam in Form für jene Veranstaltung, die sie mehrmals schon gewonnen haben - der Schweizer achtmal, der Schotte zweimal.

(Foto: David Gray/dpa)

Wimbledon - kein Ort im Tennis strahlt mehr Faszination auf die Profis aus als der Rasenklassiker. Selbst die Größten der Branche wirken ein bisschen kleiner.

Von Gerald Kleffmann

19 Grand-Slam-Titel, bald 150 Millionen Dollar Preisgeld, Nummer eins der Welt - aber wenn Novak Djokovic an diesem Montag um 13.30 Uhr Ortszeit seinen ersten Arbeitseinsatz angeht, ragt für ihn eine ganz andere Besonderheit heraus, die unbezahlbar ist: "unberührtes Gras". Lolium perenne heißt jene Rasensorte, die Djokovic dann betreten wird, acht Millimeter hoch ist das Gras geschnitten. Der Serbe hat das Privileg des erstes Schrittes auf die Halme.

Wie ein flauschiger Teppich wird sich das Grün vor ihm ausbreiten, wenn er mit seinem Gegner, dem jungen Briten Jack Draper, den berühmtesten Center Court betritt, den der Tennissport zu bieten hat. Wimbledon! Da kriegt jeder Profi Herzklopfen. "Es fühlt sich völlig anders an als alle anderen Grand Slams", sagte Djokovic, der Titelverteidiger der Männer, als er zu den Medien sprach. "Keine Werbung, keine Schilder, alles dreht sich um Tennis, der ganze Fokus liegt auf den Spielern und dem Platz." Er geriet regelrecht ins Schwärmen und Philosophieren: "Ich finde es sehr faszinierend, bedenkt man, dass wir heute in einer sehr kommerziellen, sehr materiellen Welt leben, dass Wimbledon es geschafft hat, seine Kultur, seine Tradition zu bewahren. Das ist phänomenal."

So ist es. Quiet please! Sogar die Stille ist ja legendär an diesem Ort. Wie die Erdbeeren, der Pimm's, Rufus The Hawk und die Royal Box, in der meist Menschen mit unaussprechlichen Titeln sitzen. Barbora Krejcikova, die Tschechin, die überraschend vor zwei Wochen die French Open in Paris gewann, gab zu: "Ich fühle mich ziemlich nervös." Sie sei so aufgeregt, sie könne gar nicht die richtigen Worte finden. Alles im All England Club sei "sehr neu" für sie und "aufregend und speziell". Ihre Augen blickten tatsächlich unsicher, eingeschüchtert in die Video-Kamera. In Roland Garros noch hatte sie furchtlos ihre Gegnerinnen ausmanövriert. Aber hier?

Previews: The Championships - Wimbledon 2021

Die Fahnen sind gehisst, der All England Club ist bereit: Nachdem das Turnier 2020 ausfiel, kann es diesmal stattfinden. Sogar Zuschauer in begrenzter Zahl sind zugelassen.

(Foto: Julian Finney/Getty)

Hier, an der Church Road, passiert etwas Ungewöhnliches, das es so auf der Tennis-Tour nicht gibt: Selbst die Größten der Branche werden kleiner. Demütiger. Leiser im Ton. Die Worte bedachter. Die Haare von Roger Federer, dem 20-maligen Grand-Slam-Champion, sehen noch akkurater gekämmt aus als sonst, das Lächeln von Iga Swiatek, der French-Open-Siegerin 2020, strahlt noch herzlicher. Eine sonnige Seele besitzt auch Petra Kvitova, die zweimal Wimbledon tränenreich gewann. Vergangenes Jahr fiel dieser Klassiker ja aus wegen der Pandemie. "Jetzt zurück an diesem magischen Ort zu sein, ist sehr bedeutsam für jeden", versicherte sie. "Hier war so viel Geschichte", sagte Serena Williams, die in der dritten Runde auf Angelique Kerber treffen könnte. 1877, also schon ein Weilchen her, wurde das Turnier erstmals ausgetragen.

"Ich fühle mich privilegiert, dass ich Wimbledon überhaupt spielen kann", sagt Roger Federer

Ähnlich huldigend sprachen alle Topspieler, die am Samstag und Sonntag Fragen der Journalisten beantworteten, an den obligatorischen Media Days. Diese Tage sind stets jene Momente, in denen sich die Profis ein letztes Mal in die Köpfe schauen lassen, ehe die Wettbewerbe starten. In Paris hatte Naomi Osaka offenbart, dass sie Probleme mit solchen Situationen habe, der öffentliche Druck setze ihr zu. Die Japanerin zog sich in Frankreich aus dem Turnier zurück und fehlt nun auch in Wimbledon. Aber wer weiß, vielleicht hätte gerade ihr diese Veranstaltung gut getan?

Bei allem Hang zur britischen Akkuratesse: Wimbledon vermittelt Wärme und nimmt jene, die sich um ihren Sport verdient gemacht haben und dies auch in der Gegenwart tun, stets mit offenen Armen auf. Zwar geht es, natürlich, um die Titel nach zwei Wochen, wenn aus den acht Millimetern Rasen stellenweise null Millimeter geworden sind und es staubt wie auf niedergetrampelten Feldern. Aber allein dabei zu sein, ist ein Erfolg, den selbst die, die stets dabei sind, preisen.

Zwei Eingriffe am Knie musste der bald 40-jährige Federer 2020 ertragen, zuletzt, etwa beim Turnier in Halle, zeigte er spielerische und mentale Schwächen, in England muss er nun ohne seine geliebten vier Kinder und Gattin Mirka auskommen, wohnt im Hotel statt wie sonst in einer adretten Villa, trotzdem sagte er voller Überzeugung: "Inzwischen schätze ich die Lage und fühle mich privilegiert, dass ich Wimbledon überhaupt spielen kann, nach allem, was in den letzten eineinhalb Jahren passiert ist, mit der Pandemie und meinen Operationen." Dafür hatte er geschuftet.

Andy Murray wiederum wurde bei seiner Interview-Halbestunde gefragt, was seine Rückkehr nach Wimbledon für ihn persönlich bedeute - "und für die UK". Das war natürlich völlig übertrieben und überhöht, aber so ist das eben. Allem hier wird gleich die ultimative Bedeutung beigemessen. Als Federer und Murray, der hier zweimal siegte und nach zig Comebacks noch einmal auf ein paar Matcherfolge hofft, zusammen trainierten, wurde das in den britischen Medien dargestellt, als hätten Keith Richards und Bob Dylan eine Jam-Session abgehalten. Die Kings der Branche!

Zverev hält ein flammendes Plädoyer für seinen Vater

Alexander Zverev hat übrigens auch gesprochen, der 24-Jährige legte im deutschen Teil eine furiose Pressekonferenz hin. So viel hatte die Nummer vier der Setzliste ja in den vergangenen ein, zwei Jahren zu verarbeiten, Siege, Niederlagen, Vater wurde er, eine Ex-Freundin bezichtigte ihn häuslicher Gewalt, das Corona-Theater und und und. Tennis, schilderte er ohne zu zögern, habe ihm geholfen, stets zu sich zu finden, er sei glücklich wie lange nicht. Er genieße die innere Ruhe in sich, in seinem Umfeld. Darüber hinaus hielt er ein flammendes Plädoyer für seinen Vater als Trainer, er brauche keinen prominenten Coach mehr, gut fünf Minuten dauerte allein dieser Monolog. Am Ende? Lächelte Zverev buddhahaft. "Ich wollte jetzt nicht zu offensiv sein", sagte er freundlich. Irgendwie war alles aus ihm herausgesprudelt.

Wimbledon, ja, Wimbledon macht etwas mit den Menschen. Dabei beginnt das Turnier erst an diesem Montag so richtig, wenn Novak Djokovic das unberührte Gras betritt.

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Rafael Nadal (ESP) Tennis - French Open 2021 - Grand Slam - Roland Garros - Paris - - France - 11 June 2021. *** Rafael

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