Süddeutsche Zeitung

Tennis:Die verzerrte Weltrangliste

Naomi Osaka gewinnt zwei Grand-Slam-Turniere in Serie - und ist doch nicht die Nummer eins. Eine andere Spielerin profitiert enorm vom kruden System.

Kommentar von Gerald Kleffmann

Um es gleich zu betonen: Ashleigh Barty kann nichts dafür. Die nette Australierin bestand nie darauf, dass sie die Nummer eins der Weltrangliste bleibt. Sie hat sich auch die Regeln, wie diese gebildet wird, nicht ausgedacht. Streng genommen hat die 24-Jährige seit Februar 2020 pausiert, sich eingeigelt auf ihrem Kontinent und ihren Beruf erst jetzt, Anfang 2021, wieder ausgeübt. Genau da beginnt das Problem. Barty ist immer noch Branchenbeste.

Naomi Osaka, 23, hält zwar die Titel der US Open und seit Samstag der Australian Open. Aber: nützt nichts. Zweite! Zwischen ihr (7835 Punkte) und Barty (9186) klafft eine so große Lücke, die Osaka nur überspringen könnte, wenn sie noch ein Grand-Slam-Turnier gewinnt; dafür gäbe es 2000 Punkte. Selbst die fünfte Endspiel-Teilnahme bei einem der Blockbuster würde ihr nur 1300 Punkte einbringen und nicht reichen.

Dass hier ein kruder Sachverhalt vorliegt, dämmert allmählich der Tennisbranche. Und alles wegen Corona, wenn man so will. Die WTA-Tour der Frauen und die ATP-Tour der Männer streckten das Zählsystem ja nur, um ihre Profis in Covid-Zeiten zu schützen. Niemand sollte bestraft werden, weil er oder sie in einem Land mit hohen Infektionszahlen/strengeren Auflagen lebt und schlecht trainieren/reisen kann.

Die, die jetzt gut spielen, werden zu wenig belohnt

Die Crux nur: Je länger die Pandemie dauert, desto mehr Verzerrungen sind in den Rankings sichtbar. Auch auf der Männer-Tour, wo man den Zeitraum jener bis zu 20 Turniere, die gezählt werden, von 12 auf 24 Monate ausdehnte. Dass die Frauen-Tour indes schiefer wirkt, hat damit zu tun, dass dort bis zu 16 Resultate binnen 18 Monaten einfließen. Rückwirkend eineinhalb Saisons zu werten, macht eine faire Rechnerei komplizierter, als zeitlich wandernd zwei Saisons mit mehr Turnieren zu betrachten. Warum ATP und WTA mal wieder getrennte Wege gehen, ist im Übrigen ein anderes, grundsätzliches Strukturproblem.

Barty, die 2019 vier Titel samt French-Open-Trophäe einfuhr, profitiert wie keine andere von diesem System, das mehr Gerechtigkeit erzeugen sollte. Zwar gewann sie bei ihrer Rückkehr ein WTA-Turnier in Melbourne. Aber bei den Australian Open schied sie im Viertelfinale aus; 2020 war sie im Halbfinale gewesen. Roger Federer, vor einem Jahr letztmals im Einsatz, ist immer noch Fünfter, obwohl drei Grand Slams ohne den Schweizer abliefen. Angelique Kerber wäre mit dem Vor-Corona-Wertesystem 77., wie ein Fan im Internet errechnete. Offiziell: Rang 26.

Das Gesamtbild ist klar: Die, die vor der Pandemie erfolgreicher waren, werden jetzt fürs Nicht- oder Schwächer-Spielen zu sehr belohnt. Die, die jetzt gut spielen, werden zu wenig belohnt. Osaka ist das plakativste Beispiel dafür. Denn jeder weiß: Sie ist derzeit die Beste. Die Japanerin gewann vier der vergangenen neun Grand-Slam-Turniere.

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