Süddeutsche Zeitung

Tennis:Viele Baustellen, zu viele Architekten

Die Verhaltensregeln des Tennis werden von etlichen Profis mittlerweile auf eine Art missbraucht, die dem Spiel schadet. Diskussionen über Anpassungen finden statt - doch einen gemeinsamen Nenner zu finden, scheint unmöglich zu sein.

Von Jürgen Schmieder, New York

Die Sportart Tennis hat drei massive Probleme, und sie alle sind deutlich zu sehen bei diesen US Open, wobei: Es gibt noch ein viertes Problem. Nämlich jenes, dass die ersten drei Probleme seit Jahren bekannt sind und bei jedem Turnier in all ihrer enervierenden Pracht zu identifizieren sind. Oder, wie Alexander Zverev in den vergangenen Tagen mehrfach sagte: "Das sind Regeln aus den Achtzigern. Der Sport hat sich aber weiterentwickelt."

Es ist in der Tat verwunderlich, dass eine Disziplin, die sich in vielen anderen Aspekten bewusst fortschrittlich gibt - technische Hilfsmittel statt Linienrichter, Ruheräume für Akteure mit mentalen Problemen -, bei solch kontroversen Debatten im 20. Jahrhundert gefangen zu sein scheint. Zumal es dabei nicht um die TV-Tauglichkeit geht, sondern um den Kern des Sports: die Gerechtigkeit bei der Suche nach den Besten.

Das Arthur Ashe Stadium vor ein paar Tagen. Garbine Muguruza hatte im zweiten Satz gegen Barbora Krejcikova einen 0:4-Rückstand aufgeholt und führte nun 6:5. Das Momentum war klar auf ihrer Seite, da erbat Krejcikova medizinische Hilfe: Sie habe Probleme in der Lungenmembran. Sie durfte sogar den Platz verlassen und entschuldigte sich länger als die erlaubten drei Minuten. Nach der Rückkehr gewann sie sieben Punkte in Serie. Die Partie war wenige Minuten später vorbei.

Ein Boxer kann sich auch keine verlängerte Verletzungspause erbitten

"So unprofessionell", motzte Muguruza beim Handschlag am Netz. Später sagte die Spanierin: "Unter Spielerinnen sollte man wissen, wie man sich benimmt." Ihre Gegnerin ließ über die Turnierleitung ausrichten: "Es ging mir miserabel, und auch jetzt fühle ich mich schlecht. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich bekam keine Luft, die ganze Welt hat gewackelt." Schön hingegen: Barbora Krejcikova war eine Runde weiter.

Es gibt im Tennis die Möglichkeit, eine medizinischen Auszeit zu nehmen - aber warum eigentlich? Ein Boxer kann doch auch nicht nach der fünften Runde sagen: "Entschuldigung, ich habe eine Blessur am Kopf, könnte ich mich bitte drei Minuten länger erholen?" Aber selbst wenn sie im Tennis auf ihren Pausen bestehen, auch wenn diese offensichtlich als taktisches Stilmittel missbraucht werden: Warum dann nicht zumindest darauf achten, dass die bestehende Regel eingehalten wird? Im Fall von Krejcikova schaltete Schiedsrichter Nico Helwerth die Medical-Timeout-Uhr 92 Sekunden zu spät ein, die Tschechin kehrte zwei Minuten nach Ende der Auszeit auf den Platz zurück.

Warum nicht etwa die sogenannte Shot Clock als Maßstab nehmen, die den Spielern in New York 25 Sekunden bis zum nächsten Aufschlag einräumt - und den Verletzten, von denen manche vielleicht doch gar nicht allzu versehrt sind, umso mehr Punkte abziehen, desto länger sie ihre Auszeit überziehen?

Coaching sollte endlich erlaubt werden - das würde auch für das Ende der penetranten Zeichensprache sorgen

Das wäre auch eine Lösung für das zweite Problem: die ausgiebigen Toilettenpausen. Es gibt stets den Einwand, dass es dabei keine allumfassende Lösung geben könne wegen der unterschiedlichen Laufwege auf unterschiedlichen Anlagen. Man könnte aber auch sagen: Maximal drei Minuten vom Betreten der Toilette an sind gestattet; ansonsten, wie bei den medizinischen Auszeiten: je länger die Pause dauert, desto größer der Punktverlust. Beim Erstrunden-Match von Stefanos Tsitsipas gegen Andy Murray in New York hätte das bedeutet, dass der Grieche nach seiner Verweildauer von knapp sechs Minuten in den Katakomben mit einem Rückstand nach Spielen in den fünften Satz aufgebrochen wäre. Schiedsrichter bei dieser Partie übrigens: Nico Helwerth.

Aus dem Umfeld der Männer-Spielervereinigung ATP ist zu hören, dass sich die Grand-Slam-Veranstalter mit dem Weltverband ITF, der ATP und dem Frauen-Pendant WTA am Montag in New York trafen, um diese Probleme zu erörtern. Doch in diesem Satz steckt schon das fünfte Problem: Es gibt Baustellen, und es gibt mindestens sieben Architekten, die mitreden wollen. Das sind zu viele Seiten, die einen Nenner finden müssen, was ja nicht einmal beim Einsatz der Technik gelingt: Bei den US Open ersetzt die Hawkeye-Technologie die Linienrichter, in Paris wird auf den Einsatz der Technik komplett verzichtet. Und dieses Überangebot an Interessen zeigt sich auch beim dritten Problem, das diesen Sport belastet.

Der Grandstand vor ein paar Tagen: Carlos Alcaraz jagt gegen Peter Gojowczyk einem Rückstand hinterher. In der Box des Spaniers übt der Trainer Juan Carlos Ferrero entweder Gebärdensprache, oder er übermittelt Alcaraz ein paar Zeichen, wie dieser sein Spiel gestalten solle, für alle sichtbar. Das hatte ein Gegner des Spaniers - der Ungar Marton Fucsovic - bereits vor zwei Wochen in Winston-Salem angedeutet.

Bei Grand-Slam-Turnieren sowie im Männertennis ist das Coaching untersagt, bei den Frauen gibt es außerhalb der großen vier Turniere die Möglichkeit, den Trainer ein Mal pro Satz zum Gespräch zu rufen. So richtig konsequent werden die Gesten bei den Grand Slams aber offenbar auch nicht geahndet - mal darf sich Juan Carlos Ferrero ungestraft in Gebärdensprache üben, mal wird Serena Williams beim US-Open-Finale 2018 verwarnt, weil ihr Trainer Patrick Mouratoglou eine Handbewegung gemacht hatte, mit der er taktisch Einfluss hatte nehmen wollen.

Auch Novak Djokovic nutzt die Gelegenheit für Päuschen mit psychologischem Nutzen

Die häufigsten Argumente fürs Beibehalten der aktuellen Grand-Slam-Gepflogenheiten: die Tradition und der Mano-à-Mano-Charakter des Sports, selbst Lösungen auf dem Platz zu finden. Dann jedoch sollten bestehende Regeln auch konsequent überwacht werden - oder gar keine Trainer mehr auf der Tribüne erlaubt sein.

Die Verantwortlichen debattieren also weiter, doch wenn sie das so tun, wie sie das schon immer getan haben, dürfte es noch lange dauern, bis es zu Änderungen kommt. Am Montagabend übrigens, im Arthur Ashe Stadium: Novak Djokovic tut sich schwer gegen den 20-jährigen Amerikaner Jenson Brooksby, bei 1:1-Sätzen geht er auf die Toilette und lässt sich dann noch medizinisch beraten. Zeit bis zum nächsten Ballwechsel: 360 Sekunden. Djokovic gewinnt die beiden nächsten Sätze 6:2, 6:1 - trotz einer Auszeit von Brooksby vor dem letzten Durchgang.

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