Tennis bei den US Open:Manche werden die Stille genießen

FILE PHOTO: Williams of the U.S. raises her trophy after defeating Wozniacki of Denmark in their women's singles finals match at the 2014 U.S. Open tennis tournament in New York

Serena Williams ist dabei - immerhin. Viele andere haben für die US Open abgesagt.

(Foto: REUTERS)

In New York wird normalerweise getrunken, gerülpst und gebrüllt - diesmal starten die US Open unter besonderen Voraussetzungen. Boris Becker erklärt, wer beim Grand-Slam-Turnier davon profitiert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer kurz vor Sonnenuntergang das größte Tennisstadion der Welt erklimmt, der wird mit einem einzigartigen Ausblick belohnt. Nein, man sieht nicht die Skyline von New York in alle Nuancen des gelb-roten Farbspektrums getaucht, sondern mehr als 65 000 Leute. Die Tagfans wollen raus, die Abendzuschauer rein. Es sieht aus, als würde man einen grünen Wackelpudding in einen Becher schütten und gleichzeitig den darin befindlichen roten Pudding auskippen wollen. In diesem Jahr dürften sich die Zuschauer - virtuell, der TV-Kanal ESPN hat eine Kamera installiert - auf den Sonnenuntergang über Manhattan konzentrieren, es darf ja niemand auf die Anlage.

Man kann das, was von Montag an auf der Anlage in Flushing Meadows passieren wird, nicht einordnen, ohne sich an ein paar historische US-Open-Momente zu erinnern. 1991, klar, Jimmy Connors gegen Aaron Krickstein, der alte Recke wird vom Publikum zum Fünf-Satz-Sieg gepeitscht, unvergessen der Streit mit dem Schiedsrichter ("Ich reiße mir im Alter von 39 Jahren den Hintern auf, und du machst so was?") und der Moment vor dem Tie-Break im fünften Satz, als sich Connors in der Ecke in einen Blumenkübel setzt, in die Kamera blickt und sagt: "Dafür haben sie bezahlt, genau das wollen sie doch!"

Solche Momente gab es zuhauf bei diesem Turnier: Pete Sampras 1996 gegen Alex Corretja, er übergibt sich während des Tie-Breaks im fünften Satz und wird zum Sieg gebrüllt. Oder der grippegequälte Juan Martín del Potro 2017, der gegen Dominic Thiem zwei Sätze lang elendiglich aussieht und nach dem Sieg sagt: "Das war nur wegen der Zuschauer." Oder umgekehrt Serena Williams 2018, die sich vom aufgeladenen Publikum dazu verleiten lässt, im Finale gegen Naomi Osaka den Schiedsrichter zu beschimpfen und das - auch von den Zuschauern initiierte - Comeback abzubrechen.

In New York wird getrunken und gerülpst, gebrüllt und gepfiffen - normalerweise

Die US Open sind die Antithese zum vornehmen Wimbledon. In New York wird getrunken und gerülpst, gebrüllt und gepfiffen, getrampelt und getrommelt. Was wird das also diesmal für ein Turnier, wo es all das nicht geben wird?

Man könnte freilich sagen, dass während der Pandemie nun mal die meisten Sportveranstaltungen ohne Zuschauer in den Stadien stattfinden. Bei Tennis ist das indes nur ein Teil des Ganzen, die Turnierstruktur ist anders als bei anderen Disziplinen, und das führt zu diesem Blick vom Arthur Ashe Stadium auf die Tennisanlage in Flushing Meadows, wo nun statt Ständen von Sponsoren, Futterstationen und VIP-Bereichen plötzlich ein Basketballplatz, Stationen von Physiotherapeuten und Ruhebereiche für die Spieler zu sehen sind: Nur so ein Gedanke: Kann es sein, dass die Teilnehmer zum ersten Mal nicht eingesperrt sind bei diesem Turnier?

"Ich glaube, dass Novak Djokovic und Serena Williams es genießen werden, endlich mal nicht mit Scheuklappen über die Anlage laufen zu müssen", sagt Boris Becker beim Videotelefonat mit der SZ. Er hat 1989 in New York gewonnen und kennt das wahnsinnige Gewusel, dem die Spieler gewöhnlich ausgesetzt sind: "Sie können nun auch mal alleine spazieren, ohne gestört zu werden. Das dürfte wohltuend sein." Also: nicht vom Shuttle in die Umkleide, von dort aus auf den Platz und danach schnell zurück ins Hotel. "Es ist wie eine Geisterstadt", sagte Novak Djokovic am Samstag.

Wer in den vergangenen Jahren an den ersten Turniertagen den Spielerbereich besucht hat, dem ist es vorgekommen wie den 65 000 Leuten auf der Anlage kurz vor Sonnenuntergang. Es ist ein Gewusel, selbst Promis wie die Williams-Schwestern haben kaum einen Quadratmeter für sich; es kann schon vorkommen, dass einer in Embryostellung auf einer Couch liegt und schnarcht. Nun haben ein paar Spieler gezeigt, wie es heuer aussieht: Sie haben die Logen im Arthur Ashe Stadium zu Spieler-Lounges umfunktioniert und Restaurants zu Fitnessbereichen.

Boris Becker rechnet mit überraschenden Ergebnissen

Kann es sein, dass es bei den US Open zum ersten Mal seit langer Zeit tatsächlich mal nicht um die Unterhaltung der Massen geht, sondern um die Suche nach den Besten - oder den Besten aus jenen, die nach New York gekommen sind? Bei den Männern fehlen Roger Federer, Rafael Nadal und Nick Kyrgios (und seit Sonntag auch der Franzose Benoît Paire, der laut der Sportzeitung L'Équipe Corona-positiv getestet wurde), bei den Frauen sechs Top-Ten-Spielerinnen.

Wer dürfte von den ungewohnten Bedingungen profitieren? "Ich glaube, dass Topspieler im vollen Haus besser spielen - das sind sie gewohnt, da ziehen sie Energie. Spieler in den hinteren Regionen der Weltrangliste, das sieht man immer wieder, werden dann nervös und hektisch, wenn sie vor 25 000 Leuten einen Matchball verwandeln müssen", sagt Becker. Tennys Sandgren zum Beispiel vergab im Viertelfinale der Australian Open gegen Federer sieben Matchbälle und verlor, Becker glaubt: "Diese Komponente fällt nun weg, deshalb bin ich davon überzeugt, dass es zu überraschenden Ergebnissen kommen wird. Ein Spieler auf Weltranglistenplatz 96 spielt oft vor eher leeren Rängen - das könnte ein Vorteil und damit eine Chance sein."

Es stimmt schon: Von mehr als 30 000 Leuten während der Sonnenschein-Spiele streben viele zu den Stadien Arthur Ashe, Louis Armstrong oder Grandstand, zu den anderen Plätzen verirren sie sich nur, wenn ein Publikumsliebling dort spielt oder sich Außergewöhnliches tut wie 2014, als der 34 Jahre alte Qualifikant Victor Estrella bei seinem ersten Grand-Slam-Turnier die Leute zum Platz mit den wenigsten Zuschauerplätzen (Court 4) lockte und dort mit einer grandiosen Leistung und einem Sieg für Karnevalsstimmung sorgte. Normalerweise sieht außer Familie und Freunden kaum jemand zu, und man merkte zum Beispiel Serena Williams bei der Partie gegen Shelby Rogers kürzlich in Kentucky bis zum Tie-Break im dritten Satz an, dass sie nicht wusste, ob sie nach einem gelungenen Schlag würde ausflippen dürfen, wie sie das bei vollem Haus tun würde. Sie ließ es lieber mal bleiben, freute sich verhalten - und verlor den Tie-Break.

"Es wird schwierig für alle, die kaum Matchpraxis sammeln konnten", sagt Becker. Das spricht im Umkehrschluss für Djokovic, der holprig ins Turnier der vergangenen Woche startete, dann aber den Rhythmus fand und am Samstag seinen 35. Masters-Titel gewann. Oder für Naomi Osaka, die nach formidablen Leistungen wegen eines Zwickens im Oberschenkel lieber aufs Finale verzichtete und Victoria Asarenka den Turniersieg schenkte.

Sie hatte schon ihre Teilnahme am Halbfinale absagen wollen, um wie so viele Sportler in den USA gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren. Für sie wird deshalb ein anderer Anblick im Arthur Ashe Stadium wichtiger als Sonnenuntergang und Menschenmassen sein. Es sollen nicht nur Zuschauer auf Videoleinwänden neben den Plätzen gezeigt werden, sondern auch: "Black Lives Matter".

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