Süddeutsche Zeitung

Tennis bei den US Open:Total gelassen in jedem Ballwechsel

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Spielstand, Belag, Beschaffenheit der Bälle: Der Norweger Casper Ruud bleibt in allen Situationen der US Open cool - und könnte im Finale gegen Carlos Alcaraz zur Nummer eins der Welt aufsteigen.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es genügt, den letzten Ballwechsel des ersten Durchgangs zu rekapitulieren, um zu verstehen, was das für eine Partie gewesen ist: 55 Schläge, eine Mischung aus technischer Brillanz, taktischer Finesse und Nervenduell; man konnte ahnen, was Karen Chatschanow (Russland) und Casper Ruud (Norwegen) vor jedem einzelnen Schlag berechneten: noch eine Cross-Rückhand, vielleicht mit mehr Winkel? Vielleicht doch mal die Rückhand umlaufen und mit der Vorhand knallen, aber wohin - und was, wenn der Typ da drüben das ahnt und die Vorhand anspielt? Ein wenig mehr Druck, ein wenig präziser in die Ecken vielleicht?

Es war Denksport bei gleichzeitig körperlicher Höchstanstrengung (beide liefen in dieser Rallye jeweils mehr als 150 Meter) und der Aufgabe, diese gelbe Filzkugel, die mit etwa 160 km/h übers Netz kommt, mindestens genauso schnell und möglichst zentimetergenau auf die andere Seite zu bugsieren. Es kam hinzu, dass es ja kein unwichtiger Punkt war in diesem Männer-Halbfinale bei den US Open.

Ruud führte 6:5 im Tie-Break dieses Durchgangs, der so verlaufen war wie der Ballwechsel: Ruud hatte Break vor, Chatschanow holte sich eines zurück; dann nahm Chatschanow dem Gegner den Aufschlag ab und verlor seinen direkt danach. Bei 5:4 hatte Chatschanow Satzball, den Ruud mit toller Eröffnung abwehrte und das Aufschlagspiel mit zwei Nerven-Ballwechseln (elf und 13 Schläge) durchbrachte. Es gab Aufschlagduelle bis zum Tie-Break, und dann folgte dieser Wahnsinnsballwechsel, den Ruud mit einer donnernden Rückhand die Linie lang beendete. Plötzlich war es vorbei, und das war symbolisch für diese Partie.

"Ich habe in diesem Jahr begriffen, was es wirklich bedeutet, Best-of-5-Partien zu spielen", sagt Ruud, der in Paris erst im Finale gegen Rafael Nadal verlor

Das Erstaunliche war nämlich, weil so ein Ballwechsel, so ein Auftakt-Satz einen ja vermuten lässt, dass da ein episches Match folgen könnte: Das war's, auch wenn Chatschanow den dritten Satz 7:5 gewann - Ruud sicherte sich die anderen beiden 6:2, 6:2; und das ist auch schon die Zusammenfassung dessen, wie sich Ruud in den vergangenen zwei Wochen durch dieses Turnier bis ins Finale spielte.

Er musste in jeder seiner Partien jeweils mindestens einmal in die Verlängerung - zehn Mal stand es 5:5, davon ging es sieben Mal in Tie-Breaks. Fünf Mal gewann er, fünf Mal gab er den Satz ab - gegen Tommy Paul (USA) in der dritten Runde hieß es nach vier Sätzen zum Beispiel: 7:6, 6:7, 7:6, 5:7. Jetzt aber das, was Ruud so stark macht und ihn vor den US Open bis auf Platz vier der Weltrangliste geführt hat: Die restlichen 13 Durchgänge gewann er jeweils deutlich, den fünften gegen Paul: 6:0.

Es gab im kompletten Turnier bislang keinen einzigen Durchgang, über den man hätte sagen können: Okay, den hat Ruud nun deutlich und verdient verloren. "Ich habe in diesem Jahr bei den French Open begriffen, was es wirklich bedeutet, Best-of-5-Partien zu spielen", sagt Ruud, der in Paris erst im Finale gegen Rafael Nadal verlor - das aber deutlich, 3:6, 3:6, 0:6: "Man muss einsehen, dass ein Satz weg sein kann, auch wenn es knapp ist; dass danach aber noch genügend Zeit ist, es zu korrigieren. Darauf sollte man seine Energie verwenden und nicht mit Gedanken an das, was gewesen ist oder hätte sein können."

Das heißt bei diesen US Open: Kann sein, dass einem Corentin Moutet (Frankreich) ein Sätzchen im Tie-Break abnimmt; aber was bedeutet das schon, wenn man selbst die restlichen 6:1, 6:2 und 6:2 für sich entscheidet? Oder Tim van Rijthoven in der zweiten Runde den ersten Satz gewinnt, auch im Tie-Break, dann aber 4:6, 4:6, 4:6 verliert? Der Sieger war jeweils, verdient und letztlich ohne Gefahr: Casper Ruud.

Der Norweger hat eine unfassbare Gelassenheit entwickelt: mit Spielständen, mit dem Belag in New York, der nun wirklich nicht sein liebster ist (er bevorzugt Sand); mit den Bällen bei den US Open, über die sein Vater Christian, einst selbst Tennisprofi, sagt: "In der Hitze springen sie flacher und schneller ab; das macht es schwer, sie rechtzeitig zu treffen, auch wenn man das im Fernsehen kaum sieht. Andererseits lässt die Hitze die Plätze ein bisschen langsamer werden, das kommt Casper ein wenig entgegen."

So sehen sie das im Hause Ruud. Und mit dieser gelassenen Einstellung geht Casper auch ins Finale am Sonntag: immer cool bleiben, mit allem umgehen - mit dem Gegner Carlos Alcaraz, der zweite, grandiose Halbfinale gegen den Amerikaner Frances Tiafoe auf gewohnt dramatische Art gewann (6:7, 6:3, 6:1, 6:7, 6:3); und mit der Tatsache, dass es auch darum gehen wird, wer am nächsten Tag als Nummer eins der Weltrangliste aufwacht.

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