Süddeutsche Zeitung

Naomi Osaka:Ein Vorbild für alle Unglücklichen

Tennisspielerin Naomi Osaka deutet im Alter von 23 Jahren ihr mögliches Karriereende an, der Grund: ihr geistiges Wohlbefinden. Bei der Debatte um sie wird oft übersehen: Eine Verletzung im Kopf ist genauso ernst wie eine Verletzung am Kopf.

Kommentar von Jürgen Schmieder, New York

Es ist durchaus möglich, dass dieser Satz, den Naomi Osaka zuletzt in New York sagte, die Ankündigung war, nie wieder in ihrem Leben Tennis spielen zu wollen: "Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich herauszufinden versuche, was ich machen will, und ich weiß ehrlich nicht, wann ich meine nächste Partie spielen werde", sagte sie, während Tränen über ihre Wangen kullerten. Ein mögliches Karriereende im Alter von 23 Jahren? Bei allem, was sie noch erreichen könnte - sportlich wie finanziell? Die Reaktionen sind heftig, "verwöhntes Gör", "Heulsuse", "kindische Egomanin" sind noch nettere Bezeichnungen auf sozialen Medien. Stoßrichtung und Furor sind ähnlich wie beim Interview von Meghan Markle mit Oprah Winfrey, als Markle erklärte, warum sie kein Mitglied des britischen Königshauses mehr sein wolle.

Bei Osaka sind viele Beleidigungen von einem sexistischen Bass unterlegt, oft garniert mit dem Hinweis, dass sich bei den Männern doch auch keiner so anstellen würde. Wenn Roger Federer nach der Niederlage im Finale der Australian Open 2009 schluchzend die Schale des Zweitplatzierten in Empfang nimmt, dann heißt es, wie schön das doch sei, dass der Maestro Emotionen zeige. Wenn Osaka weint, während sie offen über gravierende gesundheitliche Probleme spricht - und nichts anderes ist das, es heißt nicht umsonst geistige Gesundheit -, dann ist sie eine Heulsuse. Wir schreiben schon das Jahr 2021, oder?

Das zweite Argument: Wie kann jemand, so die krude Logik, der Geld mit einem Spiel verdient, reich und berühmt ist, es wagen, nicht juchzend durchs Leben zu laufen, sondern zu erklären, gerade keine Freude zu haben an diesem Beruf und selbst bei Siegen nur erleichtert zu sein und nicht etwa glücklich? Busfahrer könnten es sich schließlich auch nicht leisten, über ihre geistige Gesundheit zu klagen. Nun, das sollten sie aber. Jeder sollte offen darüber reden dürfen, wenn er eine Verletzung im Kopf spürt, so wie jeder darüber reden darf, wenn er eine Verletzung am Kopf hat.

Klar, Profisportler ist eine privilegierte Profession, das streitet Osaka auch gar nicht ab; und sie streitet auch nicht ab, dass beim Tennis nicht immer die Spielerin mit der präziseren Vorhand und den flinkeren Beinen gewinnt, sondern sehr häufig die, die in den entscheidenden Momenten die Nerven bewahrt - anders als jetzt Osaka, die ihren Schläger ordentlich malträtierte. Beim US-Open-Finale 2018 profitierte sie davon, dass Gegnerin Serena Williams ihre Nerven nicht im Griff hatte. Das macht auch den Reiz des Profisports aus. Es ist aber kein Alleinstellungsmerkmal: In vielen anderen Berufen ist die Fähigkeit, in entscheidenden Momenten die beste Leistung abzurufen, ebenso bedeutsam.

Das Problem ist ein anderes: Es geht einzig darum, was ein Mensch tun kann, wenn er unglücklich ist mit dem, worauf er den Großteil seiner Zeit verwendet. Osaka will kein Mitgefühl oder gar Mitleid; sie teilt der Welt mit, wie es ihr geht - nicht mehr und nicht weniger. Die Reaktion sollte nicht Häme sein, sondern Respekt. Es wird von Sportlern häufig verlangt, dass sie Vorbilder sein sollen, und ist Osaka gerade nicht genau das? Ein Vorbild für alle, die unglücklich sind und es sich nicht anzusprechen trauen.

Es gibt oft zwei Maßeinheiten im Profisport, und auch in einer leistungsorientierten Gesellschaft: Triumphe und Umsätze. Wer zur Weltspitze gehört, aber keine Titel holt, gilt schnell als unvollendet. Die hochbegabte Schweizer Tennisspielerin Belinda Bencic sprach kürzlich darüber, wie fertig einen das machen kann. Wer bei Vertragsverhandlungen nicht das Maximum herausholt, der hat sich verzockt wie Basketballspieler Dennis Schröder, der ein 84-Millionen-Dollar-Angebot der Los Angeles Lakers ablehnte; wobei jemand, der das Maximum herausholt, auch schnell als gierig tituliert wird. Profisportler sollen also unverwundbar sein, übermenschlich, sie werden ja schließlich auch übermenschlich bezahlt und führen ein Leben, von dem andere nur träumen. Gleichzeitig sollen sie aber auch nahbar sein, denn: Wer unantastbar ist, berührt keinen mehr.

"Keiner kennt die Opfer, die man erbringt, um lediglich gut zu sein", sagt Osaka

Die Enttäuschung, wenn jemand nicht alles fürs Maximum tun will, wird oft persönlich: Hach, was hätte ich mit diesem Talent und diesen Möglichkeiten angestellt? Oder: Was beschwert die sich eigentlich, ich würde das hinbekommen! Der frühere Footballstar Todd Marinovich, von seinem Vater zum Quarterback gedrillt und als Profi drogenabhängig, weil er den Druck nicht aushielt, sagt: "Das Schlimmste waren die angewiderten Blicke an der Tankstelle - als würde ich den Leuten was schulden. Die Leute verstehen nicht, wie viel Arbeit es braucht, das höchste Niveau zu erreichen." Osaka sagt in einer Netflix-Doku über sich: "Keiner kennt die Opfer, die man erbringt, um lediglich gut zu sein."

Sie sagt auch: Sie habe nur deshalb Tennis gespielt, um ihren Eltern ein besseres Leben zu ermöglichen - die hätten schließlich viel geopfert, dass sie Profi werden konnte. Das hat sie geschafft. Sie muss in ihrem Leben keinen Ballwechsel mehr spielen, die Familie wäre dennoch abgesichert. Das hat ihr der Profisport gegeben, und sie kommt keineswegs undankbar daher. Nur: "Ich habe meinen Wert als Mensch lange Zeit mit meinen Ergebnissen im Tennis verknüpft. Aber: Wer bin ich, wenn ich keine Tennisspielerin bin?" Eine Antwort auf diese Frage schuldet sie nur einem Menschen: sich selbst.

Die Profikarriere ist nur ein kleiner Abschnitt eines Lebens, sie währt ein paar Jahre. Man könnte Osaka nun vorrechnen, was sie verlöre, würde sie ihre Karriere beenden: Titel, Geld, Ruhm. Und dabei vergessen, was sie womöglich gewönne: geistige Gesundheit und ein glückliches Leben.

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