Frances Tiafoe bei den US Open:Er trägt seine Gefühle weit über die Tenniswelt hinaus

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Gefühle für alle Lebenslagen: Frances Tiafoe bejubelt seinen Viertelfinalsieg bei den US Open gegen Andrej Rublew. (Foto: Robert Deutsch/USA Today Sports)

Die vier verbliebenen Männer bei den US Open haben nie zuvor das Halbfinale dieses Turniers erreicht. Frances Tiafoe schreibt dabei in New York die Wohlfühlgeschichte.

Von Jürgen Schmieder, New York

Natürlich ist dieser Moment, in dem Frances Tiafoe den Matchball gegen Rafael Nadal verwandelt, zu mehreren Gifs geworden - zu diesen kleinen Videoschnipseln, die sich Leute schicken, wenn sie ihre Gefühle auf kreativ-witzige Weise ausdrücken wollen. Von Tiafoe gibt es nun: wie er seine Freude rausbrüllt. Wie er verblüfft-verzückt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Wie er dem Publikum ein Queen-Elizabeth-Winken zusendet.

Tiafoe ist ein wahres Füllhorn dieser Gifs, weil wohl nur der Kollege Nick Kyrgios seine Gefühle noch schlechter verbergen kann als der 24 Jahre alte Amerikaner - und weil er sich nicht nur an eigenen Leistungen ergötzt. Tiafoe reagiert auch auf Leistungen anderer, deshalb gibt es auch das Gibt's-ja-gar-nicht-Grinsen (nach einem Wahnsinnsschlag von Roger Federer), innige Balljungen-Umarmung (nach einem Stopp des Gegners) und ernüchterten Mittelfinger (nach Glücksvolley von Tommy Paul).

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Das bedeutet: Viele Leute kennen Tiafoe einzig deshalb, weil sie auf der Suche nach einem geeigneten Gif Begriffe wie "aufgeregt", "verblüfft", "erfreut" eingegeben haben; vielleicht auch "enttäuscht" (es gibt ein Video von einer Partie gegen Nadal, in dem er aussieht wie ein Kind, dem man einen Lolli weggenommen hat). Kurzum: Es gibt für jede Gefühlslage einen Tiafoe, und wahrscheinlich hat sich mancher, der mit Tennis gar nichts am Hut hat, schon gefragt: Wer in aller Welt ist dieser Typ?

Das dürfte sich nun ändern: Tiafoe hat mit dem 7:6 (3), 7:6 (0), 6:4 gegen Andrej Rublew das Halbfinale bei den US Open erreicht, und es ist nicht nur interessant, dass er das geschafft hat; sondern noch viel mehr, wie er das geschafft hat - und was das bedeutet.

Die Spielweise von Tiafoe elektrisiert das Publikum

Zuerst das Wie: Tiafoe ist einer, der permanent Druck auf den Gegner ausüben will. Er will jeden Ballwechsel kontrollieren: Das beginnt mit Hochriskoaufschlägen (Rublew konnte fast 40 Prozent der Spieleröffnungen nicht zurück ins Feld spielen). Es geht weiter mit Grundschlägen, die Gegner immer weiter nach hinten treiben - laut einer Statistik des Sportkanals ESPN rückte Rublew in den Ballwechseln mit jedem Schlag von Tiafoe durchschnittlich 20 Zentimeter zurück.

Und es endet häufig damit, dass er forsch ans Netz stürmt und Punkte mit gefühlvollen Volley-Stopps beendet: 32 Punkte schaffte er vorne, Rublew vier. Natürlich wird er dabei auch oft passiert oder spielt einen Volley ins Netz oder ins Aus. Bei einer Erfolgsquote von 78 Prozent (gegen Nadal waren es 74) lohnt es sich aber angesichts der Tatsache, dass er weniger als die Hälfte der Grundlinienduelle (49 Prozent gegen Rublew, 46 gegen Nadal) gewinnt.

Ball und Gegner stets im Blick: Frances Tiafoe will jeden Ballwechsel kontrollieren. (Foto: Kena Betancur/AFP)

Diese Spielweise elektrisiert das Publikum, also sind die erwähnten Gifs keine Spielerei, sondern auch ein Zeugnis davon, wie Tiafoe emotional Druck auf seine Gegner ausübt. So wie man bei Kyrgios auf den nächsten Ausraster wartet, verfolgt man die Matches von Tiafoe gebannt auf der Suche nach der nächsten Gif-fähigen Aktion.

Er macht das seit Jahren, und er lieferte gerade bei den US Open packende Partien - die er bislang am Ende aber stets verlor, wie die Fünf-Satz-Krimis gegen die damaligen Favoriten John Isner (2016), Roger Federer (2017) und Alexander Zverev (2018). Auftritt des Südafrikaners Wayne Ferreira, der Tiafoe seit 2020 betreut: "Wir haben viel daran gearbeitet, dass er in den großen, wichtigen, emotionalen Momenten besser reagiert", sagt er. Das sei kompliziert und erfordere Zeit: "Aber schauen Sie mal, wo er jetzt ist." Sechs Tie-Breaks bei den US Open, er hat alle sechs gewonnen, gegen Rublew sogar einen zu Null.

Seine Eltern waren bettelarme Einwanderer aus Sierra Leone

Das führt zum größeren Rahmen, den Tiafoe um Erfolge spannt: "Ich bin der Beweis, dass es jeder schaffen kann", sagt er. Auf seinem Armband steht: "Warum nicht ich? Jeder Mensch hat eine Fähigkeit. Die muss man entdecken." Seine Eltern waren bettelarme Einwanderer aus Sierra Leone, mit Tennis begann Tiafoe nur, weil sein Vater im Junior Tennis Champions Center im US-Bundesstaat Maryland schuftete. Das Ziel, als die Eltern das Talent erkannten: so gut zu werden, um das Studium über ein Tennis-Stipendium zu finanzieren.

Er wurde noch viel besser.

"Jeder liebt eine Cinderella-Story, die liefere ich gerade, eigentlich schon mein Leben lang", sagt Tiafoe. Er wolle ein Beispiel sein für junge Leute, die womöglich denken, dass sie es nie schaffen werden: "Wenn nur ein schwarzes, unterprivilegiertes Kind wegen mir Tennis spielt, habe ich schon was erreicht. Deshalb trainiere ich so hart, ernähre mich gut, verhalte mich professionell."

Noch mal ein Schwenk zu Ferreira: "Natürlich ist seine Geschichte einmalig, und ich hoffe, dass eines Tages ein Film draus wird", sagt er. "Aber: Es werden nur Filme über Leute gedreht, die am Ende auch gewinnen. Dann wird er zum Vorbild: wenn er siegt und dadurch zeigt, dass es möglich ist. Das hat er eingesehen, und er verhält sich jetzt auch so."

Harter Kampf ins Halbfinale gegen Tiafoe: Carlos Alcaraz brauchte fünf Stunden und 15 Minuten, um Jannik Sinner zu besiegen. (Foto: Paul Zimmer/Imago)

Nächster Gegner ist der Spanier Carlos Alcaraz, der Jannik Sinner (Italien) 6:3, 6:7 (7), 6:7 (0), 7:5, 6:3 besiegte - ein Match, das schon allein deshalb in die Geschichte dieses Sport eingehen dürfte, weil es fünf Stunden und 15 Minuten dauerte und erst um 2.50 Uhr Ortszeit beendet war, so spät wie noch nie eine Partie in der US-Open-Geschichte. Zum anderen, weil es sich die beiden derart gaben, dass man bisweilen an dieses legendäre Wimbledon-Finale zwischen Roger Federer und Rafael Nadal (2008) denken musste: Alcaraz wehrte einen Matchball im vierten Satz ab, er lag im entscheidenden fünften mit Break hinten; doch er kam stets zurück gegen einen grandios aufspielenden Sinner. Und dann legte Alcaraz noch einen Hinter-dem-Rücken-Schlag hin, der künftig in der Gif-Sammlung unter "kompletter Wahnsinn" abgeheftet sein dürfte.

Um den zweiten Platz im Finale bewerben sich am Freitag Casper Ruud (Norwegen) und Karen Chatschanow (Russland). Ferreira sagt, dass er überrascht sei über den aktuellen Erfolg seines Schützlings; er glaube, dass Tiafoe sein volles Potenzial erst Ende 2023 erreichen werde. Andererseits: Nur Ruud hatte bislang das Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht, das French-Open-Finale im Juni, und für jeden der verbliebenen vier in New York gilt, was auf Tiafoes Armband steht: Warum nicht ich?

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