US-Open-Sieger Carlos Alcaraz:Lobs, Hammer und Spagat

US-Open-Sieger Carlos Alcaraz: Carlos Alcaraz hat in New York das Männer-Tennis grundlegend verändert.

Carlos Alcaraz hat in New York das Männer-Tennis grundlegend verändert.

(Foto: Mike Segar/Reuters)

Carlos Alcaraz gewinnt die US Open und steigt zur jüngsten Nummer eins der Weltrangliste auf. Dabei verändert er seine Sportart grundlegend - wer künftig Grand-Slam-Turniere gewinnen will, muss sich viel bei ihm abgucken.

Von Jürgen Schmieder, New York

Carlos Alcaraz ist der beste Tennisspieler der Welt. Der Triumph bei den US Open - er gewann das Finale gegen den Norweger Casper Ruud 6:4, 2:6, 7:6 (1), 6:3 - katapultiert den Spanier an die Spitze der Weltrangliste; er ist mit 19 Jahren und 129 Tagen der Jüngste in der Geschichte, der es dorthin geschafft hat. Da kann man schon mal die Tribüne zum Team um Trainer Juan Carlos Ferrero hochkraxeln; wer bekommt in diesem Alter schon notariell beglaubigt, der Beste auf der Welt zu sein? Mehr noch: Alcaraz hat in New York das Männer-Tennis grundlegend verändert.

Natürlich ist das Bild derzeit verzerrt, weil Novak Djokovic bekanntermaßen weder in Melbourne noch New York war und für den Wimbledon-Triumph keine Weltranglistenpunkte erhielt, weshalb Alcaraz die Nummer eins mit den wenigsten Punkten (6740) ist. Djokovic wird zurückkommen, er wird allerdings ein anderes Männer-Tennis vorfinden; personell wie spielerisch. Die Evolution des Power Baseliners, vor 40 Jahren eingeleitet mit dem druckvollen Grundlinienspiel von Ivan Lendl , ist bei diesen US Open zum vorläufigen Abschluss gekommen mit dem sagenhaften Auftritt von Alcaraz.

Tennis ist ein Spiel der Positionen, hatte Rafael Nadal nach seiner Achtelfinal-Niederlage in New York gesagt. Sein Beitrag zur Evolution ist, dass er sich so weit hinter der Grundlinie positioniert, dass ihn manche Zuschauer gar nicht mehr sehen. Das erschwert die Grundschlagwinkel, bei diesen US Open war die vertikale Reaktion darauf zu sehen.

Wer künftig Grand-Slam-Turniere gewinnen will, sollte an seinem Volley-Spiel feilen

Mit Grundschlägen lassen sich Bewegungs-Wunder wie Alcaraz, Daniil Medwedew (Russland), Frances Tiafoe (USA) und Ruud nur schwer ärgern; es gibt zwei Strategien dagegen: selbst vor ans Netz, oder den anderen mit einem Stopp dorthin locken. Das öffnet die Ballwechsel, weil es wieder zu den Momenten kommt, die man vom Serve-and-Volley kennt, was Alcaraz im Finale übrigens auch immer wieder zeigte: "Ich bin gut am Netz, mein Aufschlag kam", sagte er. "Ich wollte Ballwechsel anders spielen, weil Caspers Returns sehr tief kamen."

US-Open-Sieger Carlos Alcaraz: Sein bislang größter Triumph: Carlos Alcaraz mit der US-Open-Trophäe.

Sein bislang größter Triumph: Carlos Alcaraz mit der US-Open-Trophäe.

(Foto: Julian Finney/AFP)

Also: Der am Netz muss Präsenz, Reaktion und Ballgefühl zeigen, der andere ihn umspielen, irgendwie. So entstehen Ballwechsel, bei denen das Publikum ausrastet - angesichts von Volley-Stopps, Rückhand-Smashes wie im Badminton, irren Lobs und deren Erlaufen sowie auf die Spitze getriebenen Gewinnschlägen wie Kurz-Cross und Longline-Passier-Hammer mit anschließendem Spagat.

Willkommen in der nächsten Evolutionsstufe des Tennis, die man Drop-or-Go nennen kann und die Alcaraz bereits fast perfekt beherrscht. Wer künftig Grand-Slam-Turniere gewinnen will, sollte schleunigst an seinem Volley-Spiel feilen, sich mit den geometrischen Möglichkeiten vertraut machen, Bodenturner-Beweglichkeit entwickeln und zarte Stopps üben. Roboterhaftes Grundlinien-Gebolze dürfte künftig nicht mehr reichen, gerade in Best-of-5-Partien. Alcaraz, der Weltranglistenerste, repräsentiert eine neue Tennis-Spezies, und die Denksportaufgabe an alle lautet, zu dieser Bewegung eine Gegenbewegung zu entwickeln. Wer Djokovic kennt, der weiß, dass er dieses Turnier mit Strategiepapier in der Hand verfolgt hat.

"Ich genieße das jetzt, aber ich will mehr", sagt Alcaraz

Eine neue Zeitrechnung also, in der Technikbranche heißt es dann "adapt or die". Aufs Tennis übertragen: Pass dich an, oder vergiss das mal lieber mit dem Traum vom Grand-Slam-Sieg! Alcaraz dürfte nicht schlechter werden, im Gegenteil: Er wird mit seinem Trainer Juan Carlos Ferrero (ein Grand-Slam-Titel, 2003) an den kleinen Wacklern arbeiten, die dazu führten, dass er im Viertelfinale gegen den Italiener Jannik Sinner auch hätte scheitern können, hätte Sinner seinen Matchball im vierten Satz bei eigenem Aufschlag verwandelt und keine Zitter-Rückhand ins Aus gespielt - und beim Breakball danach eine Zitter-Vorhand.

So wurde aus einer möglichen Vier-Satz-Niederlage für Alcaraz ein epischer Fünf-Stunden-Fünfzehn-Minuten-Triumph mit dem spätesten Ende eines Spiels in der Geschichte der US Open (2.50 Uhr) - das ist das zweite Element, wie Alcaraz dieses Turnier und damit das Männer-Tennis geprägt hat.

Es lässt sich gerade im Sport vortrefflich über absolute Einordnungen wie "Weltbester" debattieren; oder was es bedeutet, wenn der davor Weltbeste und Titelverteidiger Medwedew im Achtelfinale verliert; gegen Nick Kyrgios (Australien), dem einige zutrauen, auch der Weltbeste zu werden - der dann aber scheitert, am an Nummer 27 gesetzten Karen Chatschanow; der wiederum keine Chance hat gegen Ruud, welcher durch die Finalteilnahme zur Nummer zwei der Welt wird und bei einem Sieg Erster geworden wäre.

US-Open-Sieger Carlos Alcaraz: Der Norweger Casper Ruud ist nun Zweiter der Weltrangliste.

Der Norweger Casper Ruud ist nun Zweiter der Weltrangliste.

(Foto: Danielle Parhizkaran/USA TODAY Sports)

Titel sind schön und gut, es ist aber auch bedeutsam, wie einer gewinnt. Ob er Momente liefert, die sich für immer ins Gedächtnis tätowieren. Und Alcaraz lieferte: diesen samtenen Halbvolley-Stopp im Fünf-Satz-Achtelfinale gegen 2014-Sieger Marin Cilic. Der Hinter-dem-Rücken-Schlag im Fünf-Satz-Viertelfinale gegen Sinner; der Ballwechsel im Fünf-Satz-Halbfinale gegen Tiafoe, bei dem sich die beiden ein Duell am Netz lieferten, das an Badminton erinnerte und bei dem man selbst beim fünften Hinschauen nicht ganz kapiert, wie das physikalisch möglich gewesen ist.

Unvergessen werden Duelle nicht, wenn der eine den anderen vom Platz schlägt - weshalb sich schon jetzt keiner mehr an die ersten drei Gegner von Alcaraz in New York erinnert. Für Unvergessliches braucht es dringend gleichwertige Kontrahenten, die hatte Alcaraz: Er hat den Old-School-Baseliner Cilic aus dem Tableau subtrahiert und dann unvergessliche Momente geliefert mit Leuten, deren 25. Geburtstag noch bevorsteht und die ähnlich gerne Drop-or-Go spielen wie Alcaraz. Er ist also kein Einzelphänomen, er ist Teil einer Bewegung.

"Ich genieße das jetzt, aber ich will mehr - deshalb werde ich sofort trainieren, auch nach diesen zwei Wochen", sagte Alcaraz danach: "Ich bin hungrig auf mehr, ich will mehr Trophäen wie diese gewinnen." Alcaraz kam als Kandidat nach New York. Er verlässt die Anlage als "neue Spezies im Männer-Tennis" und Nummer eins der Rangliste. Und damit: als bester Tennisspieler der Welt.

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