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Agassi vs Sampras 1995:Der legendärste Ballwechsel

Im Finale der US Open 1995 spielen Andre Agassi und Pete Sampras 22 Schläge, um die sich Legenden ranken - und denen später sogar ein eigener Werbespot gewidmet wird.

Von Milan Pavlovic

Andre Agassi trägt wieder dieses unmögliche quergestreifte Shirt - abwechselnd weiß und kackbraun -, bei dem man sich fragt, wie es Ausrüster und Freundin zulassen konnten, dass er so etwas anzieht. Der Schauspielerin Brooke Shields, Mitte der 1990er die Partnerin des extrovertierten Tennisprofis aus Las Vegas, hätte man mehr Stil und Einfluss zugetraut. Immerhin hatte sie Agassi ja zu Jahresbeginn davon überzeugt, seine Farce mit dem offensichtlichen Haarteil zu beenden und sich zu seinen Haarproblemen zu bekennen, indem er die Glatze zur Frisur machte. Im Spätsommer 1995 präferiert der 25-Jährige die Haare raspelkurz, dazu ein gestutztes Piraten-Bärtchen im Gesicht. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Er war damals immer noch nicht im Reinen mit sich - Agassi hat das gut 15 Jahre später selbst geschrieben in seiner äußerst unterhaltsamen Autobiographie "Open", die 2009 auch auf Deutsch erschien.

Auf der anderen Seite des Netzes steht das genaue Gegenteil: Pete Sampras, ein langjähriger Weggefährte und Rivale, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Sein Schlabberlook - weites weißes Tennis-Shirt und jeansfarbene Shorts - macht jedem klar, dass er weder zum Blödeln noch zu einer Modesession da ist. Er ist gekommen, um zum dritten Mal die US Open zu gewinnen.

Die beiden stehen sich an diesem Septembertag zum 17. Mal auf der Profitour gegenüber, wie so oft in einem Finale, aber dennoch tasten sie sich ab, als würden sie sich nicht kennen. Der erste Satz ist deshalb wenig zündend, im Grunde sogar fad. Bis es 4:5 steht, Aufschlag Agassi. Wie aus dem Nichts hat Sampras einen Satzball und dann noch einen. Und dann schreiben die Protagonisten Geschichte, auch wenn sie davon erst einmal wenig mitkriegen.

Ein Ballwechsel, der die Zuschauer vor Begeisterung johlen lässt

Agassi serviert von der Vorteil-Seite einen soliden, hohen Kick-Aufschlag, Sampras umläuft seine Rückhand und erhöht mit einer Vorhand cross das Tempo. Agassi verteidigt sich einer kurzen, aber winkeligen Rückhand cross. Sampras' einhändiger Rückhandtopspin ist der wackligste Schlag in seinem Repertoire, diesmal gerät sie ihm etwas zu kurz und zu mittig. Agassi antwortet mit einem Vorhand-Treibschlag cross, gegen Sampras' Laufrichtung. Dieser kann froh sein, sich mit einem luftigen, aber langen Rückhandslice etwas Zeit zu verschaffen, um seine Feldposition zu verbessern. Agassi spielt noch einmal cross, aber deutlich zahmer, weshalb Sampras eine Rückhand mit Topspin die Linie entlang spielen kann, Härte und Risiko etwa 60 Prozent, es ist eher ein strategischer Schlag als ein versuchter Winner.

Agassi pariert ihn mit einem langen Vorhandtopspin longline, der Sampras unter Druck setzt, von dem er sich befreit mit einem turmhohen Rückhandtopspin nahe an die Grundlinie. Agassi, der wie so oft nah an der Linie steht, muss in der Rückwärtsbewegung am Drücker bleiben, aber seine Rückhand cross ist zu kurz. Sampras, immer noch von der Vorteil-Seite agierend, forciert mit einer Vorhand longline, die Agassi aus dem Lauf mit einer winkeligen Vorhandcross nicht nur meistert, er dreht sogleich die Kräfteverhältnisse um. Sampras freilich liebt diese Position und antwortet seinerseits mit einer noch schärferen Vorhand cross. Agassi in der Defensive? Ja. Und nein: Weit außerhalb des Doppelkorridors erläuft er den Ball und schickt ihn hart und lang auf die Reise in die Rückhandecke.

Die ersten Zuschauer johlen vor Begeisterung, als Sampras den Ballwechsel mit einer Rückhand notdürftig verlängert. Agassi spielt nun eine Rückhand, etwas wischiwaschi, was Sampras die Gelegenheit gibt, mit einer Vorhand cross - Härte und Risiko etwa 70 Prozent - wieder initiativer zu werden. Aber auch Agassi schätzt es, wenn er auf der Vorhandseite scheinbar in Verlegenheit gerät. Wieder setzt er die Vorhand hart und cross, wird aber nun von Sampras mit dem gleichen Schlag noch weiter nach außen gejagt. Agassis Longline-Antwort ist gut, aber gut ist nicht genug, denn Sampras packt nun eine Rückhand cross aus, hart und exakt, wie man sie so schön erst Jahre später von Stan Wawrinka wieder erleben wird. Selbst Speedy Gonzalez hätte sie nicht erreichen können.

Monate später läuft ein wunderbarer Werbeclip im Fernsehen

Der 22. Schlag dieses Ballwechsels (hier zum Angucken bei Youtube) bringt nicht bloß Sampras den Satzgewinn, er löst auch Ideen beim Ausrüster der beiden Finalisten aus. Nike mag Agassi zwar das hässliche Hemd verpasst haben, aber die Firma war clever und findig genug, eine Chance zu sehen, wo die meisten anderen sofort zur Tagesordnung übergegangen wären. Also läuft ein paar Monate später ein wunderbarer Werbeclip im Fernsehen (mit John McEnroe als Gaststar), der nicht bloß als Hommage an diesen "längsten Ballwechsel" funktioniert, sondern auch als ironische Spitze gegen all jene Zuschauer, denen Tennisballwechsel generell zu lang sind und die deshalb großen Sport vielleicht gar nicht verdient haben. Natürlich gab es tausende noch viel längere Ballwechsel in der Tennishistorie. (Das Ganze hätte man auch mit Ballwechseln diverser Spiele von Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic machen können, vielleicht am besten aus der wirklich endlosen Partie zwischen Djokovic und Nadal 2012 in Australien.) Aber nur selten in einem solchen Moment des Spiels.

Ein Ballwechsel, eine Werbung, ist das die ganze Geschichte? Nun, es gibt Legenden, und es gibt die Wahrheit.

In dem Western "Der Mann, der Liberty Valance erschoß" fällt gegen Ende der unvergessliche Satz "When legend becomes fact, print the legend". Da ist gerade im kleinsten Kreis herausgekommen, dass eine ganze Karriere auf einer Lüge basiert - aber da die Karriere gut für alle war (na ja, für alle außer Liberty Valance), wird an der Lüge festgehalten. In der deutschen Synchronfassung wurde der Satz recht frei übersetzt mit: "Unsere Legenden wollen wir bewahren. Sie sind für uns wahr geworden." Wer hätte gedacht, dass im Zusammenhang mit Andre Agassi und Pete Sampras mal John Wayne und James Stewart auftauchen würden? Trotzdem: Die erste Frage, die sich daraus ergibt, ist jene, wer die Rolle von Liberty Valance einnehmen würde - Boris Becker?

Für weitere Antworten muss man ein wenig ausholen.

Sampras und Agassi spielten Hauptrollen im Tennis, als dieser Sport von Amerikanern dominiert wurde: Jimmy Connors, John McEnroe, Agassi, Michael Chang, Sampras, Jim Courier, Andy Roddick, alles ging fließend ineinander über - insgesamt sammelten die Genannten 42 Grand-Slam-Titel, was heute unendlich lang her zu sein scheint, da nach Roddick (US Open 2003) bis heute kein Amerikaner mehr nachkam, der spielerisch gut genug war und den Druck meistern konnte, der auf einen einwirkt, wenn man ganz oben steht.

Sampras und Agassi kannten es nicht anders. Sie waren ganz früh ganz oben. Dass zumindest Agassi schon in dieser Phase mental mitunter ganz weit unten war, erfuhr man erst Jahre später durch "Open". Und während Sampras' Karriere gradlinig verlief, so wie er auch als Tennistyp konstant das Immergleiche anbot (Attacke!), schlug Agassi Kurven ein, die Achterbahn-Konstrukteure als viel zu halsbrecherisch abgetan hätten.

Geboren 1970 (Agassi) und 1971 (Sampras), waren die beiden einander früh begegnet, bevor sie in den 1990ern als Profis zu dominanten Tennis-Charakteren des Jahrzehnts wurden. Sie haben als Profis 34 Mal gegeneinander gespielt - lange nicht so oft wie später die Dominatoren Federer, Nadal und Djokovic, aber ihre Begegnungen waren wie Weichen, die ihrem Sport eine Richtung gaben. Wobei Sampras von Anfang an bei den allerwichtigsten Turnieren die Nase vorne hatte. Legendär war zum Beispiel ihr erstes Grand-Slam-Finale, als alle mit Agassi als Sieger rechneten, Sampras den abgehobenen Favoriten aber bei den US Open 1990 deklassierte (6:4, 6:3, 6:2!) und als schlechten Verlierer demaskierte. Oder das Viertelfinale 2001 in New York, das Agassi verlor, ohne einmal sein Service abgegeben zu haben (7:6, 6:7, 6:7, 6:7). Oder das Finale bei den US Open 2002, das sich als Sampras' Endspiel entpuppte, nachdem er Agassi in vier Sätzen bezwungen hatte.

Agassi blickt so frostig, als wäre er Mr. Freeze

Noch prägender war freilich jene Begegnung im September 1995, als beide auf dem Zenit ihres Könnens waren - oder als Nummer eins und zwei der Welt zumindest zu sein schienen. Sampras hatte im Juli zum zweiten Mal erfolgreich seinen Wimbledon-Titel verteidigt und auch sonst genug Spiele gewonnen, um als Nummer eins nach New York zu reisen; genug, um Agassi noch auf Distanz zu halten. Der hatte - nachdem er sich seines Haarteils entledigt und beim ersten Start in Melbourne gleich die Australian Open gewonnen hatte - einen herausragenden Frühling gehabt und sich vorgenommen, die beiden Enttäuschungen des Frühsommers als zusätzliche Motivation zu nutzen: In Paris scheiterte er im Viertelfinale an Jewgeni Kafelnikow, und im Wimbledon-Halbfinale verspielte er eine 6:2, 4:1-Führung gegen Boris Becker. Das war schmerzhaft genug, aber erst danach musste Agassi lesen, wie der Deutsche über ihn lästerte, als verwöhnten, unter Kollegen unbeliebten Snob. "Es war eine Kriegserklärung", schrieb Agassi Jahre später: "Ich wusste, dass der Kerl mich nicht mochte. Aber das? Ich gucke auf meine Hände und sehe, wie ich sie zu Fäusten balle."

Angetrieben von seinem Coach, dem berüchtigten Trashtalker (und Becker-Hasser) Brad Gilbert, ruft Agassi den "Sommer der Rache" aus, und das klappt vortrefflich, mit Turniersiegen in Washington (Finalgegner: Stefan Edberg), Montréal (Sampras), Cincinnati (Chang) und New Haven (Richard Krajicek). Nach der Auslosung für die US Open ist klar: Im Halbfinale von New York könnte es zum Wiedersehen mit Becker kommen, den Gilbert verächtlich "B.B. Sokrates" nennt, weil er findet, dass der Leimener "versucht, den Intellektuellen zu spielen, obwohl er bloß ein zu groß geratener Bauernlümmel ist".

Das Duell am Abend des 9. September 1995 ist ansprechend, aber Welten entfernt vom Wimbledon-Klassiker. Agassi trägt wieder seinen oben beschriebenen Schnodderlook und blickt so frostig, als wäre er Mr. Freeze. Auch seine Begleiterin Brooke Shields hat ihr furchteinflößendstes Killergesicht aufgesetzt, kein Problem für die Schauspielerin, die zwei Jahre später für zwei Jahre Agassis Frau werden sollte, obwohl sie so gut wie nichts von Tennis und wohl auch nicht viel mehr von den Nöten und Ängsten ihres Mannes verstand. Becker konnte das besser, auch deshalb brachte er den Amerikaner ins Schwitzen.

Nachdem er die beiden ersten Sätze jeweils im Tie-Break verloren hat, verteilt Becker Luftküsse ins Publikum - inklusive Agassis Box. Und Brooke Shields. "Er macht das, wovon er glaubt, dass es mich aus der Fassung bringt", erklärt Agassi. "Es funktioniert: Ich bin so wütend, dass ich für eine Weile die Konzentration verliere" - und damit den dritten Satz. "Das Publikum rastet aus. Es scheint begriffen zu haben, dass dies persönlich ist, dass diese Kerle sich nicht leiden können, dass alte Rechnungen beglichen werden." Agassi findet wieder in die Spur und besorgt sich bei 5:4 den ersten Matchball gegen Beckers Aufschlag. Im Originalton schildert er die Szene so: "The second serve is a click faster than I anticipated but I adjust. I'm on my toes, feeling like Wyatt Earp and Spider-Man and Spartacus. I swing. Every hair on my body is standing up. As the ball leaves my racket, a sound leaves my mouth that's pure animal. I know that I won't ever make this sound again, and I won't hit a tennis ball any harder, or any more perfect. Hitting a ball dead perfect - the only peace. As it lands on Becker's side of the court the sound is still coming from me."

Diese Erinnerungen decken sich nicht ganz mit den Eindrücken, die man beim Wiedersehen hat, aber wie so viele Legenden klingt auch diese wunderbar. "Becker walks to the net. Let him stand there. Becker is still at the net. I don't care. I leave him standing there like a Jehovah's Witness on my doorstep. Finally, finally, I go to the net and stick my hand in general vicinity, without looking. He gives my hand a shake, and I snatch it away."

"Am Ende verliere ich immer, denn immer treffe ich auf Pete", sagt Agassi

Ist das die Nebengeschichte, die den wunderbaren Ballwechsel am Finaltag abrundet? Noch längst nicht. Glaubt man Agassi, war er am Morgen nach dem Becker-Match so angeschlagen von einer Rippenverletzung (Knorpel gerissen), die er sich im Halbfinale zugezogen, aber wegen des Adrenalins zunächst nicht gespürt hatte, dass er drauf und dran war, seine Teilnahme am Endspiel abzusagen. "Ich war ungefähr bei 38 Prozent", schrieb er über den Morgen des Endspieltags. Ein paar Stunden später steht auf dem Scoreboard, aus Agassis Sicht, 4:6, 3:6, 6:4, 5:7. Der Finalist zieht in "Open" Bilanz: "Während ich mir auf der Fahrt zu Brooke die schmerzenden Rippen halte und aus dem Fenster schaue, durchlebe ich in Gedanken noch einmal jeden einzelnen Moment dieses Sommers der Rache. All das Abrackern, all der Zorn, all die Siege und all das Training, das Hoffen und das Schwitzen, und es läuft alles auf dasselbe leere Gefühl der Enttäuschung hinaus. Egal, wie viele Matches man gewinnt - wenn man das Endspiel nicht gewinnt, ist man ein Verlierer. Und am Ende verliere ich immer, denn immer treffe ich auf Pete, immer Pete."

Agassi verliert aber nicht nur das Finale. Sondern mittelfristig den Glauben an sich selbst. Er fängt an, absichtlich zu verlieren ("Glauben Sie mir, das ist schwieriger als zu gewinnen"), probiert Crystal Meth (sein Pusher heißt nicht Skinny Pete, sondern Slim), heiratet Brooks Shields, obwohl er spürt, dass das nicht gutgehen wird, rutscht in der Weltrangliste immer weiter ab, bis er im November 1998 nur noch die Nr. 141 ist. Das ist die Geschichte hinter der Geschichte - die, wie es sich gehört, zu einer viel schöneren Geschichte führt: dem Comeback mit dem märchenhaften Triumph 1999 bei den French Open, womit er erst der zweite Spieler der Profi-Ära wird, der alle Grand-Slam-Turniere wenigstens einmal gewonnen hat. (Federer, Nadal und Djokovic folgen später.) Bis zu den US Open 1999 gewinnt Agassi außerdem das Herz von Stefanie Graf, und ein paar Jahre lang steigert er sein spielerisches Niveau, so dass er noch 2003, mit 33 Jahren, die Nummer eins der Welt ist.

Und was ist mit dem wunderbaren Werbespot über den endlosen US-Open-Ballwechsel? Er ist Agassi keine Silbe wert. So viel zu Wahrheit und Legende. Aber wenigstens für die Zuschauer ist diese Legende eine Wahrheit geworden, die man sich immer wieder angucken kann.

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