Süddeutsche Zeitung

Tennisprofi Stefanos Tsitsipas:Er grinst wie Jack Sparrow

  • Der Grieche Stefanos Tsitsipras gewinnt die ATP Finals in London.
  • Der 21-Jährige ist Teil einer jungen Generation, die sich jetzt anschickt, Federer, Nadal und Djokovic gefährlich zu werden.

Von Gerald Kleffmann

Seit September hatte er sich zurückgehalten. Nichts wollte er mehr online stellen in den sozialen Medien. Diesen radikalen Beschluss hatte er gefasst, nachdem er bei den US Open in der ersten Runde gegen den Russen Andrej Rubljow verloren hatte. Offline wollte er nur noch sein. Und ja, es hatte lange ganz gut geklappt mit dem Abtauchen. Aber spätestens seit Sonntagabend muss er damit leben, dass er wieder überall auftaucht im Internet. Stefanos Tsitsipas, 21, wird aber diesmal ganz sicher nichts gegen all diese Bilder und die Wortlaute haben, die ihm entgegenbrausten.

Fotos tauchten noch spät in der Nacht im Internet auf, die ihn in der völlig leeren, mächtig großen O2-Arena in London zeigten. Konfetti lagen am Boden, die griechische Fahne über der Schulter, er lächelte. In einem Videofilmchen, aufgenommen in der Umkleide, wo nur die engsten Vertrauten mit hineindurften (und offensichtlich ein Kameramann), sang er die legendäre Zeile "I'm so excited and I just can't hide it" von den Pointer Sisters nach. Dazu stemmte er einen riesigen Pokal hoch. In einem anderen Video, das auf Tsitsipas' Social-Media-Seite erschien, hielt sein Manager eine Rede. Patricio Apey, ein manchmal grandios distinguierter Mensch, aber einer, der auch weiß, wie man Talente aufbaut (lange war er auch für Alexander Zverev zuständig), hob das Champagnerglas und sprach: "Das Niveau wurde gehoben - von NextGen zu BigGen."

Er meinte: 2018 hatte Tsitsipas das Jahresabschlussturnier der besten acht Nachwuchsspieler in Mailand gewonnen - nun das der Erwachsenen in London, die ATP Finals, mit 6:7 (6), 6:2, 7:6 (4) gegen den Österreicher Dominic Thiem. Eine verrückte Geschichte? Ja und nein.

Der Weg von Tsitsipas, geboren in Athen, ist schon lange vorgezeichnet. Vater Apostolos ist Tennistrainer. Mutter Julia, eine Russin, war mal die Nummer 194 in der Weltrangliste. Tsitsipas ist einer aus dieser Gruppe, zu der auch der Deutsche Alexander Zverev gehört oder der Russe Daniil Medwedew oder Thiem, die oft zu hören bekommt: Wird mal Nummer eins! Zukünftiger Grand-Slam-Champion!

Sonntagnacht wurde Tsitsipas selbst von einem Journalisten daran erinnert, vor drei Jahren gesagt zu haben: In den nächsten drei Jahren will ich einen Major-Titel holen. "Ich bin zu spät", erwiderte da Tsitsipas, und sein breites Jack-Sparrow-Grinsen dazu kann man sich bestens vorstellen. Nein, einen Grand-Slam-Sieg, einen Erfolg bei einem der vier wichtigsten Turniere in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York hat er noch nicht erreicht. Das Halbfinale bei den Australian Open im Januar war sein bestes Ergebnis. Aber diese NextGen, die nächste Generation, wie sie treffend von der ATP vermarktet wird, ist voll in der Spur. Zumindest bei den Turnieren über zwei Gewinnsätze mischen sie gleichwertig mit, Zverev gewann 2018 die ATP-Finals, der Russe Karen Chatschanow und Thiem siegten bei einem Event der Masters-Serie.

Dass sie bei den Grand Slams noch keinen Sieger stellen konnten, liegt daran, dass sie eben nicht in einer leichten Situation sind, wie Tsitsipas sehr anschaulich schilderte: "Die Sache ist, dass es die großen drei gibt, die die Grand Slams in den vergangenen Jahren dominierten. Das macht es wirklich schwer für uns." Um deren Macht zu durchbrechen, bräuchte es seiner Ansicht nach folgenden Ablauf: "Jemand muss den Job übernehmen und sie etwa in den frühen Runden besiegen. Wenn sie nämlich erst mal weit im Turnier gekommen sind, tendieren sie dazu, das haben wir all die Jahre gesehen, besser zu werden, besser zu spielen, sich besser zu fühlen."

Auf Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic trifft diese Beschreibung exakt so zu. Zusammen haben der Schweizer (20 Titel), der Spanier (19) und der Serbe (16) unglaubliche 55 Grand Slams gewonnen. Im Tennis gibt es die Formulierung, dass ein Spieler ein mächtiges Spiel haben muss, um Großes zu gewinnen. Damit ist gemeint: keine einfachen Fehler machen, mit zwei, drei Stärken in den entscheidenden Phasen voll dagegenhalten können, vor allem - nicht das Niveau senken, schon gar nicht einknicken.

Das Faszinierende an Stan Wawrinka zum Beispiel war und ist, dass der Schweizer dieses mächtige Spiel als einer der wenigen neben den großen drei in sich hat, es schlummert nur gelegentlich. Das feinfühlige Trainergenie Magnus Norman hat diese Fähigkeit aber dreimal wachgerüttelt, dreimal triumphierte ja Wawrinka bei Grand Slams. Andy Murray hat auch diese Gabe, wenn er fit ist. Tsitsipas hat sich nun vorgenommen, in diese Liga vorzustoßen. Und tatsächlich besitzt er dieses mächtige Spiel, wie er in London bewies. Es war nicht zu übersehen, wie er im Halbfinale etwa Federer damit stresste, wieder und wieder mit höchster Schlaghärte zu agieren. Und: Er ließ dabei nicht nach. Eine Nervensäge im positiven Sinne.

Thiem seinerseits glänzte ähnlich in der Gruppenphase, etwa gegen Djokovic. Trotz Erkältung gelang ihm "vielleicht mein bestes Match", wie der 26-Jährige befand. Die Bälle flogen wie von einem Kompressor abgeschossen übers Netz, gelbe Bälle als Laserstrahle. Bis zum Schluss. Der NextGen, die längst in der Gegenwart angekommen ist, reicht es nicht mehr, einen guten Eindruck zu machen, nicht mehr, mal einen Satz zu holen. Sie sprechen jetzt von realistischen Chancen auf Grand-Slam-Siege, wobei Tsitsipas zwar manchmal etwas schräg wirkt in seinem Einsiedlerwesen, aber doch so aufgeräumt ist, um zu erkennen: "Das ist eine wirklich schwierige Aufgabe, sie (Federer, Nadal, Djokovic) in Grand Slams zu schlagen, weil sie über drei Gewinnsätze einfach mehr Chancen haben, im Match zu bleiben."

Die hohen Ziele für 2020 sind somit gesetzt, wobei sich Tsitsipas die Hamstertaktik von Nadal zu Herzen nehmen und nur Match für Match vorausblicken will, in der Hoffnung, dass sich eines Tages dann aus sieben gewonnenen Partien ein strahlender Grand-Slam-Titel formiert. In London hat er mit dieser Art der kleinen Selbstüberlistung nun die ATP-Krone und 2,4 Millionen Euro gewonnen. Aber auch, weil er nach seinem Tief bei den US Open eine neue Inspiration gefunden hat, wie er andeutete. Welche das ist? "Das ist ein Punkt, den ihr nächste Woche wohl sehen werdet", rief er den Reportern in London zu und ergänzte: "Ich werde darüber bloggen." Ja, Tsitsipas ist jetzt wieder online.

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