Es sind die kleinen Dinge, an denen zu erkennen ist, dass sich Laura Siegemund erst noch an die Choreografie des großen Sports gewöhnen muss. Als sich die 28-Jährige nach ihrem Sieg im Qualifikationsfinale beim Stuttgarter Tennisturnier am Montag in einen der bequemen Sessel fallen ließ, plapperte sie mit erfrischend floskelfreien Sätzen gleich los. "Mit dem Mikrofon bitte", soufflierte ihr die Dame von der Seite. Es war die Pressesprecherin der Spielerinnenorganisation WTA. Sie begleitet die Hauptdarstellerinnen bei den großen Turnieren zu den Interview- und Sponsorenterminen.
Für Siegemund ist in diesen Wochen alles neu und aufregend. Doch es scheint nicht so zu sein, als ob sie das sonderlich beeindrucken würde, im Gegenteil. "Ich genieße das Hier und Jetzt", sagt sie unaufgeregt. Sie kann das gerade entstehende Interesse an ihrer Person ganz gut einordnen, seit sie bei den Australian Open zu Beginn des Jahres auf wundersame Weise zum ersten Mal die dritte Runde eines Grand-Slam-Turniers erreicht hat. Siegemund musste schon in jungen Jahren erfahren, wie es ist, mit völlig überzogenen Erwartungen konfrontiert zu werden. Viel früher als es einer Hochbegabten gutgetan hätte.
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Doch als sie im Jahre 2000 mit zwölf Jahren das wichtigste Jugendturnier des Planeten in Florida gewann, war die Sehnsucht in Deutschland nach einer neuen Heldin groß. Steffi Graf hatte im Jahr davor ihre famose Karriere gerade beendet. Laura Siegemund war eine der ersten deutschen Spielerinnen, die Vergleiche mit Graf aushalten musste. "Lauras Geschichte ist tatsächlich ein bisschen die eines Wunderkindes, das am Druck und den Erwartungen scheiterte", erzählt Wilfried Lenz.
Lenz ist Siegemunds Physiotherapeut und Freund. Er hat eine eigene Praxis im Stuttgarter Osten, nur wenige Kilometer von der Arena entfernt, wo seine Freundin an diesem Dienstag in der ersten Runde auf die Russin Anastasia Pawlyuschenkowa trifft. Auch Siegemund lebt mittlerweile in Stuttgart. Während der Turnierwoche hat sie sich allerdings ins Spielerhotel einquartiert, "um besser im Turniermodus zu sein", wie sie sagt. Siegemund probiert gerne Dinge aus, seit sie sich wieder entschieden hat, es als professionelle Tennisspielerin zu versuchen. "Ich bin eine Tüftlerin, die jeden Tag probiert, ihr Potenzial auszureizen", sagt sie selbst. Im Moment läuft es richtig gut.
Sie spielt aufregendes Tennis, anders als viele ihre Kolleginnen, die nur an der Grundlinie kleben und monoton auf die Bälle einschlagen, tritt sie mutig auf, variabel. Sie hat den Rückhandslice ebenso im Repertoire wie den Flugball. Fast bei jeder Gelegenheit stürmt sie ans Netz vor, um die Ballwechsel abzukürzen. Das ist im Frauentennis eine Rarität. Ihr verwegener Stil hat sie in der Weltrangliste schon auf Position 71 geführt - Tendenz weiter steigend. Wo das enden wird? Auf diese Frage will sie keine Antwort geben, sie mag sich nicht auf Zahlen reduzieren lassen. "Ich will einfach nur mein Spiel verbessern und eine konstantere und komplettere Spielerin werden", sagt Siegemund.
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Früher hat sie auch schon so furchtlos gespielt. "Aber ich wollte die Siege zu arg. Das hat mich blockiert." Sie wollte deshalb etwas ändern im Leben, sie war unglücklich, die ständigen Niederlagen stressten sie ebenso wie die vielen Reisen. Aber ganz aufhören mit dem Tennis wollte sie auch nicht. "Dazu liebe ich den Sport zu sehr", findet sie selbst. Also beschloss sie im Dezember 2011, nach vielen aufwühlenden inneren Debatten, ihr Leben neu zu ordnen. Sie holte all die Dinge nach, die sie wegen der ständigen Hast um den Globus nicht tun konnte: Studieren zum Beispiel. Sie schrieb sich an der Fernuniversität Hagen in Psychologie ein und meldete sich für den A-Trainer-Lehrgang an. "Selber Tennis spielen rutschte immer tiefer auf meiner Prioritätenliste ab", erzählt Siegemund.
Das Geld für das Studium verdiente sie als Klubtrainerin auf der Schwäbischen Alb. Nebenbei spielte sie noch für TC Rüppurr Karlsruhe in der Bundesliga. Je mehr sie sich vom Profitennis entfernte, desto besser spielte sie. Lockerer, unverkrampfter als zuvor. Aus Spaß nahm sie im Sommer 2012 bei einem 25 000 Dollar dotierten Weltranglistenturnier in Darmstadt teil - und gewann.
Obwohl sie weniger spielte, kletterte sie im Ranking kontinuierlich. Aber zurück auf die Tour drängte es sie nicht. Sie begann zwar wieder intensiver zu trainieren, doch sie wollte in jedem Fall ihr Studium mit dem Bachelor beenden. Im Dezember des vergangenen Jahres war es dann so weit: Thema der Abschlussarbeit: "Versagen unter Druck". Inwieweit sie autobiografische Erkenntnisse hat einfließen lassen, will sie nicht verraten. Vielmehr genießt sie ihr neues Leben auf der Tour. "Ich weiß jetzt, dass ich hier her gehöre", sagt Laura Siegemund in Stuttgart. Es war eine lange Reise zu sich selbst. "Ich bin mit mir im Reinen und als Mensch gereift", fügt sie hinzu. Der Druck von früher ist völlig verschwunden.