Man müsste die Erzählung dieses Hypes in der Via Piero Gobetti beginnen – wenn man sie betreten könnte. Metallzäune und vor sich hin starrende Männer in Wintermänteln schirmen einen Bereich der kleinen Straße im Stadtzentrum Turins ab. In die Nähe der Hotellobby des Principi di Piemonte kommt man aktuell nur nach einem Sicherheitsheck; für die besten acht Tennisspieler der Welt, die in dieser Woche am ATP-Finalturnier teilnehmen, wurde dort eine Sonderzone errichtet. Allerdings: Davon abhalten, sich um diese Zone herum zu sammeln, kann man die Menschen natürlich nicht. Nicht einmal die ins Piemont eingezogene Winterkälte schafft das.
Von morgens bis abends steht eine beachtliche Menschentraube vor einem Hotel und wartet auf einen 23-jährigen Tennisspieler. Für Popstars, Rockbands oder Fußballteams mag dies Normalität sein, aber dass beim Tennis das Hotel abgeschirmt werden muss, ist zumindest in Turin ein neues Bild. Wie überhaupt das Stadtbild eine Art Filzball-Ausnahmezustand darstellt. Die Ladenbesitzer haben ihre Schaufenster mit Tennisbällen geschmückt, Taxifahrer eine Art Pendelverkehr zwischen Innenstadt und Tennisarena eingerichtet – und jede Menschenmenge entwickelt eine fast schon magische Anziehungskraft, egal ob in der Via Gobetti oder vor dem lokalen Nike-Geschäft.
Eine Frage hört man in diesen Pulks immer wieder, es ist die Frage, um die sich in dieser Woche in Turin alles dreht: „C’è Jannik?“ Man kann sie mit einem deutlichen Ja beantworten.

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Sì, sì, c’è Jannik, ovunque. Überall ist Jannik Sinner, in dieser Woche in Turin, aber in Wahrheit seit Monaten im ganzen Land. Auf den Titelseiten der Sportmagazine, der Tageszeitungen, der Modeblätter, der Klatschblätter. Auf den Werbebanden, im Fernsehen, in Spots für Bankkontos, Sportkleidung, Internetanschlüsse, Pasta, Kaffee, Uhren, Anzüge, sogar für Hautcreme wirbt er, davon wird noch zu sprechen sein. In seinem Heimatland und darüber hinaus gibt es die Nummer eins der Tennis-Weltrangliste in so vielen Varianten (und stets flexibel in drei Sprachen, Italienisch, Deutsch, Englisch), dass vor allem eines feststeht: Jannik Sinner ist der Auslöser eines beachtlichen Booms, vergleichbar womöglich gar mit den Anfängen der Becker-Graf-Euphorie im Deutschland der 1980er-Jahre.
Nicht einmal von ketzerischen Fragen italienischer Reporter lässt sich Jannik Sinner erschrecken
Der Katholizismus, la Mamma und der Fußball, das sind in Italien die drei Staatsreligionen. Zumindest glaubte man das, bis Sinner kam, seinen Schläger schwang und zwei Grand-Slam-Titel gewann, die ihm in der Sportwelt ein dominantes Profil gaben. Nur: Wo soll das noch hinführen, er ist doch erst 23? Und kann ein solches Luftschloss nicht auch schnell wieder einstürzen?
Wenn man Sinner beim Reden zuhört, kann man kaum glauben, was für eine Euphorie er derzeit entfacht. Gelassen, gleichzeitig bedacht, aber auch unscheinbar spricht er. Nicht einmal von ketzerischen Fragen italienischer Reporter lässt er sich erschrecken: „Ich sehe keine Rivalität mit dem Fußball“, wehrt Sinner umgehend ab: „Ich hoffe einfach, dass die Nationalmannschaft gewinnt.“ Dasselbe gilt umgekehrt: Ein Fußballer nach dem anderen ließ sich diese Woche beim Turnier blicken.
Sinner wird längst mit den großen Sportlern der Landesgeschichte verglichen, das sind dann die wenigen Augenblicke, in denen auch ein wenig Kritik zu vernehmen ist. Ein Anti-Personaggio sei er bisweilen, heißt es dann, ein Normalo, der nicht ins Licht der Scheinwerfer drängt. Das unterscheidet ihn von den großen Kickern, von Paolo Maldini und Francesco Totti, und auch von Lebemännern und Grenzgängern wie Alberto Tomba (Ski) oder Marco Pantani (Rad). Sinner, der aus dem beschaulichen Pustertal stammt, wo sein roter Wuschelkopf schon als exzentrisches Grenzgängertum gilt, versichert weiterhin, er sei „nur ein 23-Jähriger, der gut Tennis spielen kann“. Der Hype, die Menschen vor dem Hotel, das alles gefalle ihm: „Die Leute sind fantastisch. Sie stehen zu dir in guten und schlechten Zeiten.“
Heldenverehrung bringt immer eine gewisse Fallhöhe mit sich, was auch Sinner gerade kennenlernt. Seit August begleitet ihn auf seinem steilen Karriereweg bekanntlich das Thema Doping. Im Frühjahr wurden bei ihm Spuren des anabolen Steroids Clostebol festgestellt.
Andere Tennisprofis wurden lange gesperrt, Sinner nur für einige Tage
Sein Physiotherapeut habe sich am Finger geschnitten und die Wunde mit einem Clostebol-haltigen Spray versorgt, danach habe er Sinner ohne Handschuhe massiert, so lautet Sinners Version der Geschichte. Die im Tennis zuständigen Instanzen hielten das für glaubwürdig und schafften den Fall zügig vom Tisch – was mindestens die Frage nach einer Bevorzugung aufwirft. Andere Tennisprofis wurden in den vergangenen Jahren lange gesperrt, Sinner nur für einige Tage – vorerst. Die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada hat den Fall noch einmal aufgerollt, wann die nächste Anhörung stattfinden wird, ist noch unklar.

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In der treuen, unumstößlich auf seiner Seite stehenden italienischen Öffentlichkeit hielte man eine Sperre Sinners für abwegig. International hingegen gibt es diese Stimmen durchaus. Da lautet die Unterstellung unter der Hand, der Sport wolle wohl nicht auf seinen derzeit bedeutendsten Spieler verzichten.
Auch in Turin kann man den Eindruck gewinnen, dass Sinner derzeit too big to fail ist. Am Montagabend wurde er von der ATP als Weltranglistenerster geehrt, zahlreiche berühmte Vorgänger schickten dafür Videobotschaften, die in der Inalpi-Arena eingeblendet wurden: Ehemalige Nummer-Eins-Spieler wie Andy Roddick, John McEnroe oder Roger Federer betonten, wie dankbar sie seien, dass es Sinner gebe. In solchen Momenten wird klar, dass sein Sport glaubt, in Sexten im Pustertal eine Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wer den „großen Drei“ nachfolgen könnte, Federer, Rafael Nadal, Novak Djokovic. Darf Sinner auf dieser Mission wegen Doping-Vorwürfen scheitern?
„Es ist sicherlich keine angenehme Sache, aber wir werden es wie immer angehen“, sagt der Angeklagte selbst. Den Satz wiederholt er in verschiedenen Varianten, wenn er gefragt wird, auf Italienisch, Deutsch oder Englisch, immer mit einem Wir. Die Familie, sein Betreuerstab, sie alle sind eng verbandelt. Es sind dann eher die kleinen Momente, in denen man die dunkle Wolke über dem roten Wuschelkopf erkennen kann, die den ganzen Traum bedroht.
Der Trost liegt vielleicht darin, dass der Eindruck vorherrscht, ihm wird nicht nur sein Team, sondern ein ganzes Land nicht von der Seite weichen. Sinner wird mit einer Warmherzigkeit unterstützt, die er selbst ausstrahlen kann, etwa wenn er einem kleinen Mädchen, das mit ihm vor dem Spiel auf den Platz läuft, noch ein High-Five gibt, bevor er spielt. Egal, wie viel Werbung er für wie viele Produkte macht, bei Sinner wirkt nichts gespielt oder orchestriert, nur manchmal etwas langweilig und brav, wie ein guter Schwiegersohn. Aber genau das kommt an, in der Tennishalle in Turin trifft man alle Bevölkerungsgruppen unter den Fans, Großmütter aus Süditalien genauso wie junge Männer aus Südtirol. Letztere ziehen sich oft orange Warnwesten an, weil das die Sinner-Farbe ist, eine Anspielung auf seinen Spitznamen „Karotte“. Wenn überhaupt, lösten seine verharmlosenden Aussagen nach einem bestens bezahlten Showtrip nach Saudi-Arabien zuletzt ein gewisses Stirnrunzeln aus. Aber sonst lässt ihm das Land das meiste durchgehen.
Bestätigt bekommt man das auch im Ristorante Vittoria dal 1918. Das Restaurant liegt keine 300 Meter von den Sicherheitsabsperrungen vor dem Hotel entfernt, hinter dessen Rezeption man bereits ein Sinner-Foto in der Ahnengalerie berühmter Besucher erspähen kann. „Letztes Jahr ist er noch bei uns vorbeigekommen“, erzählt der Wirt voller Begeisterung. Diesmal allerdings, man glaubt es kaum: Sinner non c’è, die ganze Woche nicht! Jedoch: gar kein Problem. Man müsse sich nur die Menschenmengen anschauen, sagt der Wirt, wie solle Jannik sich da durchkämpfen, nur für eine Pasta. Was wirklich zählt, wissen sie im Vittoria dal 1918: „Er soll einfach nur Tennis spielen.“