Tennis:Kerber würde auch zum Mond fliegen

Current Australian Open tennis champions Serbia's Novak Djokovic and Germany's Angelique Kerber walk together as they hold the tournament trophies ahead of the official draw ceremony in Melbourne, Australia

Novak Djokovic (li.) und Angelique Kerber: Zurück in Melbourne

(Foto: REUTERS)

Angelique Kerber hat ihre neue Popularität im Jahr 2016 genossen - doch welche Spuren hat das hinterlassen? Ein Jahr nach ihrem Triumph kehrt sie nach Melbourne zurück.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Just als die Musik ertönt und das Programm der Auslosung losgeht an diesem schwülen, wolkenverhangenen Freitagmittag, fängt der Wind an zu blasen. Die Bäume biegen sich wie Gummistangen, so dass sich das neue, imposante Headquarter der Australian Open immer wieder hinter Blättern unsichtbar macht. Mit leichter Verspätung schreiten schließlich die Gewinner des Vorjahres um die Ecke: Novak Djokovic, lässig in Jogginghose, trägt den Männer-Pokal. Angelique Kerber, im düster-schwarzen Internatskleid, den Frauen-Pokal. "Ich weiß nicht, wie oft Novak das schon gemacht hat", sagt die 28-Jährige über den Serben, der bereits sechs Mal beim großen Tennisturnier in Melbourne triumphiert hat. Für sie selbst jedoch, die vor exakt zwölf Monaten erstmals Grand-Slam-Siegerin war, sei der Gang mit der Trophäe in der Hand noch "sehr speziell" gewesen, sagt Kerber. Ihre Augen strahlen, als sie glaubhaft versichert: "Hier hat alles begonnen. Es ist wunderbar, zurück zu sein."

Zurück an dem Ort, an dem ihre wundersame, irre Reise 2016 begann.

Todd Woodbridge, der frühere Doppelspezialist aus Sydney, moderiert die kleine Veranstaltung, natürlich stellt er die berechtigte Frage, wie das genau war vor einem Jahr. Runde eins, Matchball für die Japanerin Misaki Doi, ein Schicksalmoment damals. Kerber lächelt. Antworten wie diese kann sie im Schlaf aufsagen: "Keine Ahnung, wie das Jahr verlaufen wäre, hätte ich dieses Spiel verloren."

"Amazing" ist ihr Lieblingswort geworden

Sie muss sich ja, das ist ihr verdientes Privileg, keine Gedanken um solche Spekulationen machen. Sie besiegte Doi. Und dann, am 30. Januar 2016, schrieb Kerber Geschichte: 17 Jahre nach Steffi Graf gewann wieder eine Deutsche ein Grand-Slam-Turnier. Und was keiner ahnte: Trotz kleiner Rückschläge (Erstrunden-Aus in Paris) kam es sogar noch besser für die Kielerin: Finale in Wimbledon. Silber bei Olympia in Rio. Sieg bei den US Open. Nummer eins der Weltrangliste.

"Amazing" ist ihr Lieblingswort, mit dem sie bis heute diese beeindruckende Bilanz beschreibt. Die vergangene Saison war derart vollgepackt mit Erfolgen, dass sie nach der Saison Ehrungen und Preise am Fließband abholen durfte und nicht einmal das bisschen Zeit fand, um zwei spaßige Wetteinsätze einzulösen. Sie muss immer noch mit ihrem Team einen Tanzkurs wagen - und mit ihrem Trainer Torben Beltz einen Fallschirmsprung.

Sie kann jetzt auch in Melbourne nichts von beidem nachholen, Grand-Slam-Tennis ist das wichtigste im Jahr, zudem schließt sich für sie in Australien ein Kreis. Das bedeutet auch, dass "neue Aufgaben" warten, eine "Challenge", so drückt sie das aus. Daher lautet die Frage, um die es jetzt geht, vor allem: In welcher Verfassung tritt Kerber ein Jahr nach dem Sprung in den Yarra River zu ihrer ersten Titelverteidigung bei einem der vier größten Tennisspektakel an? Kann sie ihren Coup auf ähnliche Art wiederholen? Oder verkrampft sie in der neuen Position als Gejagte?

Wer sie früher schon kannte, stellt fest, dass Kerbers Manifest absolut noch zutrifft: "Ich bin, wie ich bin." Sie ist eine pflichtbewusste, ehrgeizige Leistungssportlerin mit dem Hang, Dinge nicht zu verkomplizieren. Sie hat in den letzten Wochen viel trainiert, in Polen, wo sie bei den Großeltern lebt. Sie war aber eben auch mehr als sonst abseits unterwegs, es war das verdiente Schaulaufen. Sie wollte ihren unerwarteten Ruhm genießen, das hat sie fröhlich getan, und allein das ist eine bemerkenswerte Nachricht, dass trotz Vereinnahmungen ein deutscher Sportler nicht gleich in eine Trotzreaktion verfällt.

Kerber, das darf man ihr bedingungslos abnehmen, mag ihre neue Rolle, die ja auch weitere angenehme Nebeneffekte mit sich brachte, von Pokalen, Preisgeld-Millionen und Auszeichnungen mal ganz abgesehen.

Sie würde auch zum Mond fliegen

Für einen Sportwagenhersteller und eine Sportbekleidungsfirma warb sie bereits, nun ist sie auch das Gesicht eines Versicherers, einer Beauty-Kosmetiklinie, einer Schweizer Uhrenmarke und einer Serie für Abnehmprodukte. Mit anderen Prominenten korrespondiert sie neuerdings wie selbstverständlich auf Augenhöhe. Als Nico Rosberg Formel-1-Weltmeister wurde, twitterte sie ihm. Auch dem Schauspieler Patrick Dempsey ließ sie nette Zeilen zukommen, oder vielleicht hat das auch jemand für sie gemacht, oft funktioniert das Profigeschäft ja so. Die Botschaft aber ist die gleiche: Kerber ist jetzt in vielen Bereichen in einer höheren Dimension angelangt, und deshalb hat sie auch eine bestens bekannte Vertrauensperson wieder zu Hilfe geholt, um das alles außerhalb des Platzes zu stemmen.

Aljoscha Thron, Typ Ryan Gosling, war Profi und hat mit 29 nicht nur in Medizin promoviert, sondern er weiß offenbar auch, wie Kerbers Imagezuwachs zusätzlich poliert und in bare Münze verwandelt werden kann. Die beiden hatten vor Jahren schon zusammengearbeitet. Thron hatte zuletzt den delikaten Job zu verrichten, bis zu hundert Medienanfragen zu dirigieren. Manches war aber auch leicht wie ein Elfmeter ohne Torwart - jenes simple Foto etwa, auf dem Kerber jüngst euphorisiert neben Barack Obama stand, war ein PR-Treffer höchster Güte.

Kerbers Jahr ist im Rückblick umso erstaunlicher, weil sie mit zunehmender Dauer zwei Rollen einnehmen musste - und dieses Kunststück gelang ihr. Die eine Kerber reflektierte ständig für die Öffentlichkeit ihre Siege, die von der erfolgsmäßig ausgedörrten Tennis-Nation schnappatmend aufgesaugt wurden. Die andere Kerber sammelte unbeirrt neue Siege. Das führte in der Wahrnehmung sogar so weit, dass ihr, der Zweiflerin zuvor, plötzlich die verrücktesten Dinge zugetraut wurden. Ob sie eine Expedition zum Mond wagen würde, wurde sie gefragt, da sagte sie knochentrocken: "Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich es machen."

Erfolg darf nicht bequem machen

Nach zehn Monaten im Ausnahmezustand war es dann vielleicht ganz gut, dass die Off-Season anstand, in der Kerber weitgehend in Ruhe gelassen wurde. Denn als das neue Jahr begann, merkte auch Kerber: Das mit dem Mond muss noch warten, sie muss schnellstmöglich zusehen, zwei Beine auf den Tennisboden zu bekommen. Auch als immer noch offiziell Weltbeste im Ranking gilt ja: Wenn eine andere besser spielt, gewinnt sie. In Brisbane, beim ersten Turnier der Saison, das Kerber bestritt, war das so. Auch in Sydney, bei ihrem zweiten Turnier 2017.

Weltuntergänge waren ihre Niederlagen gegen die athletische Ukrainerin Elina Svitolina sowie gegen die freche, junge Darja Kasatkina nicht. Aber als Kerber nach dem frühen Aus gegen die Russin zuletzt meinte, ihr fehle der Rhythmus, sie spüre den Ball nicht, da schien es, als spreche sie das erste Mal seit Monaten wieder explizit über ihr Handwerk.

Dass mit den Erfolgen auch ganz andere Gedanken in den Kopf kriechen können, die einen vielleicht mal hier und mal dort vom Wesentlichen ablenken, hat sie kürzlich im Stern angedeutet: "Ich habe schon mitbekommen, dass es Leute gibt, die finden, ich sei arrogant geworden." In Australien wiederum hat sie der Zeitung The Age verdeutlicht, dass sie durchaus ihr Bewusstsein neu justieren muss: "Ich muss wieder zu diesem Gefühl zurückkommen, dass ich keine Erwartungen habe, dass ich einfach rausgehe, Match für Match spiele und das Gefühl genieße."

Sie muss jetzt Obama, Bambi und Mond vergessen - und mehr Beltz denken. Ihr Trainer, der mit seiner Achtzigerjahrefrisur immer kauziger aussieht, predigte schon im Frühsommer: "Wir wollen nicht plötzlich alles anders machen." Sein Dauerappell: Erfolg darf nicht bequem machen. Die Basis bleibt die Arbeit auf dem Platz.

Melbourne 2017 ist für Kerber somit vieles. Ein Ort der schönen, intensiven Rückbesinnung. Aber auch einer, an dem zu erkennen sein wird, welche Spuren ihre wundersame, irre Reise 2016 hinterlassen hat.

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