Süddeutsche Zeitung

Juan Martin del Potro:Sein Stirnband hängt jetzt überm Netz

Der geniale, aber viel zu oft verletzte Juan Martín del Potro beendet seine Karriere und verabschiedet sich auf bewegende Weise. Sein Vermächtnis ist gewaltig: Er agierte auf Augenhöhe mit Djokovic, Federer und Nadal.

Von Gerald Kleffmann

Am Anfang, als Juan Martín del Potro, 33, aus dem Kabinentunnel schritt, begleitet von der Fernsehkamera, und den Court Guillermo Vilas betrat, benannt nach dem berühmten Tennisspieler der Siebzigerjahre, erhoben sich die Menschen. Natürlich. Viele standen ohnehin bereits, singend, himmelblau-weiß-gestreifte Fahnen und Trikots in den Händen haltend und schüttelnd, wie sie es bei der Albiceleste machen, der heiß geliebten Fußball-Nationalmannschaft. Patricia wurde eingeblendet, sie saß ruhig auf der Tribüne, dabei drückte allein ihr Erscheinen die Bedeutung dieses Abends aus. Noch nie hatte die Mutter ein offizielles Turnier-Match ihres Sohnes live in einem Stadion verfolgt. In allen 18 Jahren seiner Profikarriere!

Jetzt aber musste sie hier sein, wie Juan Martíns Schwester Julieta, wie seine Lebenspartnerin Oriana Barquet. Es war die letzte Chance. Auch verdiente Größen des argentinischen Tennis gaben sich die Ehre, etwa Gabriela Sabatini, die etwas schafft, was nicht viele schaffen: in bewundernswerter Würde zu altern. Wenngleich auch sie eher wie versteinert das anstehende und einseitige Spiel verfolgte. Sie wusste ja: Don't cry for me, Argentina, das schmetterte Evita einst kraftvoll im Musical. Aber das hier war die Realität. Juan Martín del Potro hat keine Kraft mehr.

Er sagte das später exakt so. Er sei schon froh, wenn er "heute nach zweieinhalb Jahren ohne Schmerzen im Bein wieder schlafen" könne. "Ich möchte in Frieden leben", sagte Del Potro, schluchzend auf dem Sandplatz, nachdem er in der ersten Runde dieses eher kleinen ATP-Turniers mit 1:6, 3:6 gegen Landsmann Federico Delbonis verloren hatte. Bei 3:5 hatte ihn ein Weinkrampf überwältigt. Mehrere Sekunden musste er den Kopf in ein Handtuch stecken, um sich zu beruhigen. Als die Partie vorbei war, schritt er ans Netz, legte sein Stirnband über die Kante, küsste es - und ließ es dort hängend zurück.

In Buenos Aires bestritt Del Potro sein erstes Match seit 2019 - es war zugleich sein letztes

Noch nie war es wohl zutreffender zu behaupten: Da hatte wirklich jemand seine Seele auf dem Platz gelassen. Und natürlich weinte er weiter. Auch deshalb berührte er wieder und wieder seine Fans und genießt bis heute den größten Respekt seiner Kollegen: Er scheute sich nie, Gefühle zurückzuhalten. Er nahm andere gern in den Arm. Er verlor nie ein böses Wort (nur einmal vielleicht, in einem Match gegen Andy Murray). Seine Siegespose - die Beine gespreizt, die Arme emporgereckt - ist legendär. Seine Tränen, in vielen Stadien vergossen, sind es auch. Was nicht nur an seinen Niederlagen lag. Das ist das Tragische.

Davon zeugte auch dieses letzte Kapitel. Es war 965 Tage her gewesen, dass Juan Martín del Potro, sanfter Riese genannt, letztmals eine Partie bei einem Turnier bestritten hatte. Im Juni 2019 besiegte er im Londoner Stadtteil Queen's den Kanadier Denis Shapovalov. Zum nächsten Duell konnte er nicht mehr antreten. Diesmal hatte er, zum zweiten Mal, einen Bruch der rechten Kniescheibe erlitten. Zum achten Mal musste er eine Operation ertragen.

Allein dreimal wurde ihm das linke Handgelenk aufgeschnitten, das rechte einmal. Wenn er nicht auf dem Platz stand und mit seiner Vorhand, die von seinen Anhängern als "Thors Hammer" und von John McEnroe als die "vielleicht mächtigste Vorhand des Tennis" gehuldigt wurde, die größtmöglichen Siege errang, war er im Krankenhaus oder in Reha. Und viel zu oft alleine mit Zweifeln. Del Potro hatte Depressionen, das räumte er 2016 ein.

Seine Geschichte ist deshalb so besonders, weil Del Potro als Mensch andere berührte. Aber auch, weil sich so viele fragen, nicht nur er: Was wäre gewesen, wenn? Wenn sein Körper stabiler gewesen wäre? Gäbe es heute, statt den großen Drei, vielleicht einen Klub der großen Vier? Mit den Mitgliedern Rafael Nadal, Roger Federer, Novak Djokovic - und Del Potro? Alle ahnen die Antwort: Ja. Die Tennisgeschichte wäre anders verlaufen. Eine große Karriere wäre um ein Vielfaches größer geworden.

Del Potro konnte mit seinem gewaltigen Spiel Wunden bei Gegnern hinterlassen

Um Del Potros Vermögen in Relation zur seit Jahren aufstrebenden neuen Spieler-Generation zu setzen: Dort galt es stets schon als Erfolg, wenn sie Sätze gewannen gegen die großen Drei. Als der Russe Daniil Medwedew im Finale der US Open Djokovic bezwang, glich das einer Sensation. Del Potro hat - wenn es sein Körper zuließ - nicht nur mitgehalten. Er hat reihenweise triumphiert gegen die Schwergewichte. Er war auf Augenhöhe. Er hatte nie Angst. Nie Ausreden.

Er hatte die Schläge für diese großen Matches. 2009, bei seinem Grand-Slam-Triumph in New York, fertigte er Nadal im Halbfinale 6:2, 6:2, 6:2 ab. Schlimmer wurde der Spanier nie verprügelt. Das Finale hatte Federer im Grunde schon gewonnen, doch der Schweizer, der zuvor fünf Jahre lang in New York in einer beispiellosen Serie gewonnen hatte, verlor es noch. Im fünften Satz siegte Del Potro, nie aufgebend, mit 6:2. Federer sagte einmal: Wenn es eine Partie gäbe, die er noch mal spielen wolle, dann dieses Finale. Del Potro war einer, der nicht nur selbst litt. Er konnte mit seinem gewaltigen Spiel Wunden bei Gegnern hinterlassen. Als er 2016 in der ersten Runde der Olympischen Spiele Djokovic niederrang, rannte der Verlierer tränenüberströmt aus der Arena.

Damals, in Brasilien, holte Del Potro Silber, erst Murray besiegte ihn. Vier Jahre zuvor in London hatte der Argentinier Bronze geholt, gegen Djokovic. Del Potros Bilanz ist auch sonst beeindruckend: Dritter der Weltrangliste, 22 Turniersiege, darunter 2018 in Indian Wells, wo er Federer im Finale bezwang. 2016 führte er Argentinien im Endspiel gegen Kroatien zum Davis-Cup-Erfolg. "Ich habe mir all meine Träume im Tennis erfüllt", sagte Del Potro jetzt in Buenos Aires, doch er wusste auch, dass es an diesem Abend nicht um alte Triumphe ging. Es ging um Größeres. "Die Zuneigung der Menschen ist die wichtigste Trophäe", fügte er sofort hinzu. "Jetzt bin ich beruhigt, denn mein letztes Spiel war wahrscheinlich auf dem Platz und nicht in einer Pressekonferenz."

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