Alexander Bublik ist da einer ganz großen Sache auf der Spur. Der kasachische Tennisprofi ist ein Schlawiner, deshalb war sein Zwei -Buchstaben-Kommentar zu Jannik Sinner freilich augenzwinkernd gemeint. „AI“, schrieb er bei Instagram, AI für den englischen Begriff artificial intelligence. Bereits vorher hatte er in den Katakomben des Arthur Ashe Stadium verraten, was er damit meint: „Den hat eine künstliche Intelligenz erschaffen.“
In der Tat spielt Sinner nicht erst bei den US Open weitgehend so gut, als sei er übermenschlich; als hätte jemand Chat-GPT gebeten, den möglichst perfekten Tennisspieler zu kreieren: Sinner bewegt sich, wie ein Mensch seiner Statur sich nicht bewegen können sollte. Er beschleunigt den Ball, wie ein Mensch mit diesen dünnen Armen es nicht können sollte. Roger Federer war oft Poesie in Bewegung, Sinner ist oft Perfektion in Bewegung. Zu bestaunen war das am Mittwoch gegen seinen Landsmann Lorenzo Musetti: Man hatte beim 6:1, 6:4, 6:2 in gerade mal zwei Stunden nicht den Eindruck, einem doch oft fehlerhaften KI-Produkt der Gegenwart beizuwohnen, sondern dem weiterentwickelten Modell; dem „T-1000“ aus den „Terminator“-Filmen.

Djokovic bei den US Open:Und jetzt gegen die Unschlagbaren
Novak Djokovic will unbedingt seinen 25. Grand-Slam-Titel gewinnen, doch dafür muss er im Halbfinale von New York an Carlos Alcaraz vorbei. Mental scheint er bereit zu sein – was macht sein Körper?
„Ich bin keine Maschine“, hatte Sinner in New York bereits gesagt. Als Menschlein in Sorge vor der Regentschaft der Roboter denkt man da: „Genau, was eine Maschine sagen würde!“ Denn: Hätte Sinner dieses Jahrhundertfinale in diesem Jahr bei den French Open in Paris nicht doch noch verloren gegen den Spanier Carlos Alcaraz, im Tiebreak des fünften Satzes, dann würde er jetzt in New York nicht nur seinen Titel verteidigen, sondern zudem den Jahres-Grand-Slam komplettieren können: den Sieg bei allen vier großen Tennisturnieren innerhalb einer Saison. Das hat bei den Männern seit Rod Laver vor 56 Jahren keiner mehr geschafft.
Gegen Shapovalov hätte Sinner das Match entgleiten können. Tat es aber nicht
Den überspitzten metaphorischen Vergleich, dass es sich bei Sinner um einen Roboter handle, gibt es aufgrund dessen Präzision und Streben nach Perfektion auf dem Platz bereits seit Längerem. In einem Reklamefilm sagte er 2023 selbst: „Ich wurde Roboter genannt, Supermensch, Maschine.“ Der KI-Gedanke ist dank Bublik neu, weil Sinner streckenweise nicht nur nahe an der Unfehlbarkeit spielt, sondern in Echtzeit dazulernt. Er weiß etwa inzwischen, wie man körperliche Schwächephasen übersteht, wie er bei den Australian Open in seinem Achtelfinale gegen den Dänen Holger Rune bewies. In Wimbledon erlitt er eine Ellbogenverletzung an seinem rechten Schlagarm. Seitdem spielt er mit langer Bandage, sicher ist sicher. Bei den US Open musste Sinner in der dritten Runde gegen Denis Shapovalov phasenweise zittern und sein Spiel wackelte, der Kanadier gewann den ersten Satz und hatte im dritten Satz einen Spielball zur 4:0-Führung. Da hätte das Match Sinner entgleiten können. Tat es aber nicht. Er behält einfach die Ruhe und besinnt sich auf seine Fähigkeiten. Das zeichnet ihn aus.

Shapovalovs Landsmann Felix Auger-Aliassime wird es am Freitag selbstverständlich trotzdem probieren; er befindet sich in einem Zustand, der ebenfalls besondere Schubkraft verleihen kann: Zwei Wochen nach dem US-Open-Finale wird er seine Partnerin Nina Ghaibi heiraten. In New York bewegt sich der 25-Jährige über den Platz wie einer, der sich auch die großen Siege zutraut. In den vergangenen drei Runden bezwang Auger-Aliassime jeweils Gegner, die zum engen oder erweiterten Favoritenkreis gehörten: Alexander Zverev, Andrej Rublew (Russland) und zuletzt Alex de Minaur (Australien).
„Es war jetzt nicht das schönste oder hochklassigste Match“, sagte Auger-Aliassime nach seinem Viertelfinalerfolg mit fast buddhistischer Gelassenheit: „Wenn einer sieben perfekte Partien liefert, dann sagt man: Okay, zu gut. Aber meistens ist es doch so, dass zwei, drei Matches ordentliche Plackereien sind.“ Man fühlte sich sofort an die Rede von Roger Federer an die Absolventen der Dartmouth University im vergangenen Jahr erinnert. „Ich habe fast 80 Prozent meiner 1526 Einzelpartien gewonnen“, sagte die Schweizer Tennisikone damals: „Was denkt ihr, wie viele Ballwechsel ich gewonnen habe? 54 Prozent.“ Und er sagte: „Beim Tennis ist Perfektion unerreichbar.“
Aber mancher kommt ihr doch sehr, sehr nahe. Jannik Sinner in jedem Fall schon.
Die Anprobe seines Hochzeitsanzugs werde er wohl verschieben müssen, sagt Auger-Aliassime im Spaß
Das führt natürlich zu der Frage, wie Auger-Aliassime bestehen möchte. Fast ist man geneigt, ihm viel Glück zu wünschen für sein ganz persönliches Mensch-Maschine-Duell mit Sinner, das entfernt an die legendäre Schachpartie zwischen Garri Kasparow und dem IBM-Computer Deep Blue 1997 sowie die Auseinandersetzung zwischen Lee Seedol und AlphaGo im Brettspiel Go erinnert; diese beiden Ereignisse gelten als Meilensteine bei der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz. Sport ist natürlich immer noch Sport, daher machte sich Auger-Aliassime auch etwas lustig über Sinners einmalige Klasse. „Jannik hat nicht viele Stärken; ich habe eine ganze Menge Schwächen entdeckt“, sagte er ironisch. Ernst ergänzte er: „Er ist zeitweise unantastbar.“
Das ist der Begriff, den man derzeit oft hört, wenn es um Sinner geht: unantastbar. Tatsächlich haben ihn in diesem Jahr bislang nur zwei Akteure besiegt: Bublik, dessen Gedanken oft in einem anderen Universum schweben; und Alcaraz, der an guten Tagen selbst unbesiegbar wirkt – in dieser Saison gewann er gleich dreimal gegen Sinner, in der Gesamtbilanz führt er mit 9:5 Erfolgen gegen den Südtiroler. Auger-Aliassime, da ist er einfach nur realistisch, weiß in jedem Fall, welcher Kontrahent ihm am Freitagabend New Yorker Ortszeit gegenüberstehen wird. Kürzlich beim Mastersturnier in Cincinnati ging er 0:6, 2:6 gegen Sinner unter. „Zumindest habe ich gegen ihn gespielt und weiß, was mich erwartet“, sagte er nun.
Auger-Aliassime versucht es also mit Zuversicht, was nie schaden kann. „Ganz ehrlich: Ich werde mich gar nicht so sehr auf den Gegner konzentrieren“, sagte er nach seinem Viertelfinalsieg in vier Sätzen gegen de Minaur und betonte: „Ich muss besser spielen als heute, unabhängig von der Taktik.“ Und dann gönnte sich Auger-Aliassime einen kleinen humorvollen Ausblick. „Ich muss am Freitag und auch in der nächsten Runde auf hohem Niveau spielen.“ Damit auch niemand diesen verdeckten Hinweis auf seinen Sieg gegen Sinner und den Einzug ins Finale verpasste, sagte er noch über seine bevorstehende Vermählung: „Das Anpassen des Anzugs werden wir wohl verschieben müssen.“ Dieser Termin war für kommenden Montag geplant.

