Tennis:Frische Wunden

Der Weltranglisten-Erste Novak Djokovic scheitert in Rio noch früher als in Wimbledon. Wie schon in London verhindert der Argentinier Juan Martín del Potro die zweite Medaille des Serben.

Von Gerald Kleffmann

Natürlich sauste das Bild durch die sozialen Medien, es war ja eine ungewöhnliche Aufnahme. Da kauerte ein Mann, bekannt für sein Lächeln, in einer Ecke, der Blick kalt, glasig, leer. "So begann Delpo den Tag", schrieb der PR-Manager Jorge Viale, der den Tennisprofi Juan Martín del Potro betreut, unter das Foto: "Gefangen in einem Aufzug im olympischen Dorf für 40 Minuten." Ein Stromausfall hatte für erhebliche Vorfälle gesorgt, zumindest für del Potro endete der Sonntag auf eine Art, die ihn dazu verleitete, Tränen zu vergießen. Es waren Tränen der Freude und Rührung, und sie hatten nichts damit zu tun, dass ihn am Vormittag die Handballer aus seiner Heimat Argentinien aus dem Fahrstuhl gerettet hatten.

Del Potro hatte am möglicherweise schon speziellsten Match dieses Tennisturniers mitgewirkt. Er hatte es gewonnen.

Welche Emotionen in diesem 7:6 (4), 7:6 (2) in der ersten Runde steckten, zeigte sich nach dem verwandelten Matchball. Als die letzte Vorhand an der Netzkante hängengeblieben und auf die richtige Seite gefallen war, schritt del Potro ans Netz, und als ihn der Verlierer umarmte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, begann er zu weinen. Es dauerte nicht lange, dann weinte auch der Verlierer. So groß der Sieg des einen war - das Scheitern des anderen, der da so respektvoll gratuliert hatte, war größer.

Novak Djokovic war sein Gegner gewesen, und um zu verstehen, wie hoch die Fallhöhe dieses Scheiterns war, muss man sich nur an eine Debatte vor Kurzem erinnern.

Diesem Djokovic, seit drei Jahren weltbester Profi, wurde der Golden Slam zugetraut. Nach Triumphen bei den Australian Open und den French Open lag er auf Kurs, das zu schaffen, was nur Steffi Graf 1988 erreicht hatte: alle vier Grand Slams sowie Olympia in einer Saison zu gewinnen. "Es ist ohne Zweifel eine der härtesten Niederlagen in meinem Leben, in meiner Karriere", gab Djokovic zu, nachdem er sich zunächst zurückgezogen hatte, um sich zu sammeln. "Die Wunden sind frisch", sagte er, womöglich beinhaltete dieses Bekenntnis jene schmerzhafte Pleite in Wimbledon, über die vor fünf Wochen die Tennisbranche gestaunt hatte: Phasenweise völlig fahrig spielend unterlag er dem Amerikaner Sam Querrey in der dritten Runde, Probleme abseits des Platzes sollen ihn abgelenkt haben, hieß es vage. Er zog sich zurück, und als er nach Toronto reiste und das Turnier der 1000er-Serie souverän gewann, bestätigte dieser Erfolg offenbar nur: Wimbledon war ein Ausrutscher. Eigentlich sei Djokovic unschlagbar.

Djokovic hatte die Fans auf seiner Seite - "ich fühlte mich wie ein Brasilianer", sagte er

"Die Wimbledon-Niederlage hat mich sehr motiviert", mit dieser Botschaft war er nach Brasilien gereist. Und Gold, klar, war sein einziges Ziel - weil Gold "vielleicht die größte Errungenschaft meiner Karriere sein könnte", so sagte er es. Entgegen früherer Meldungen, er würde außerhalb des olympischen Dorfes wohnen und sich abschotten, quartierte er sich im Athletenkomplex ein, ließ sich mit Schwimmer Michael Phelps ablichten, zeigte sich, verkleidet mit einer Spaßbrille, auf dem Balkon.

Kerber weiter – Kohlschreiber abgereist

Angelique Kerber bleibt auf Medaillenkurs: Die Australian-Open-Siegerin zog beim Tennisturnier durch ein 6:4, 6:2 gegen die ehemalige Wimbledonfinalistin Eugenie Bouchard ins Achtelfinale ein. Die vorherigen drei Duelle mit ihrer Angstgegnerin aus Kanada hatte Kerber verloren. An diesem Dienstag trifft die an Position zwei gesetzte Kerber auf die einstige US-Open-Siegerin Samantha Stosur (Australien). Beendet sind die Spiele bereits für Philipp Kohlschreiber. Der Davis-Cup-Spieler aus Augsburg musste sein Zweitrundenmatch wegen einer Stressfraktur im Fuß absagen und flog nach Hause.

Eine Überraschung gab es im Frauen-Doppel: Serena und Venus Williams verloren nach 15 Siegen erstmals ein Olympia-Doppel. Die Gold-Gewinnerinnen von Athen 2004, Peking 2008 und London 2012 unterlagen der tschechischen Paarung Lucie Safarova/Barbora Strycova mit 3:6, 4:6. SZ

Djokovic hatte anders als viele Kollegen, die nicht nach Rio kamen, den Olympia-Geist an sich rangelassen, seine Beziehung zur Heimat Serbien hatte ihm einen Schub gegeben, die Zuschauer dankten es ihm, sie unterstützten ihn, wie er es nicht in jeder Arena erfährt. Jene globale Verehrung, die Federer und Nadal erfahren, wird ihm ja nicht immer zuteil; sein Trainer Boris Becker, der in Rio mit serbischer Team-Akkreditierung auf der Tribüne saß, hat das Missverhältnis häufig moniert. In Rio jedenfalls habe sich Djokovic wie daheim gefühlt, "ich fühlte mich wie ein Brasilianer".

Am Ende weinte er leidensreich wie einer, denn er hatte nicht nur erstmals seit 2009 ein Erstrundenmatch verloren (damals in Brisbane gegen Tomas Berdych), sondern die Chance verpasst, sich von Federer und Nadal abzusetzen, ja Geschichte zu fabrizieren. Der Schweizer, der am Montag 35 wurde und diese Saison wegen seines maladen Knies abgehakt hat, hat es nur zu Gold im Doppel geschafft, 2008 in Peking. Damals gewann der Spanier Nadal die Einzelkonkurrenz -, aber eben nicht als Nummer eins der Welt. Djokovic, das hat er oft betont, sieht sich auf dem Zenit, er strebt nach Rekorden, und noch nie hatte ein Weltbester Olympia-Gold im Tennis gewonnen. Bronze 2008 in Peking bleibt nun seine einzige Medaille, 2012 hatte er im Spiel um Platz drei verloren - gegen del Potro. In Rio tröstete ihn (außer dass er im Doppel nach einem Sieg mit Zenad Zimonjic noch im Turnier ist) der Fakt, gegen wen er verlor: "Es freut mich, dass ein guter Freund von mir und jemand, der die letzten Jahre mit Verletzungen zu kämpfen hatte, zurück ist und auf dem Level spielt."

Del Potro, der 2009 als Erster mit dem Sieg bei den US Open die Grand-Slam-Dominanz der großen Vier (Federer, Nadal, Djokovic, Murray) durchbrach und am Tag nach dem großen Sieg das Achtelfinale erreichte, hatte drei Handgelenks-OPs zu überstehen. In München verriet er in diesem April, dass er depressive Phasen hatte und ans Aufhören dachte. "Ich denke, dieser Sieg hier ist noch größer" als der in New York, sagte er in Rio, "weil ich meine Gegenwart kenne". Er, einst die Nummer vier, ist nun die Nummer 141 der Welt; lange wusste er nicht, wie er mit dem linken Problemhandgelenk die beidhändige Rückhand umsetzen sollte. Gegen Djokovic spielte del Potro viel Slice, seine Vorhand ist nach wie vor eine Waffe. Er ist, ja: zurück. Am Ende, nach zig Tränen, waren es diesmal die richtigen. "Ich weinte, weil ich glücklich bin", sagte er und strahlte.

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