Grand-Slam-Rekordchampion Novak Djokovic kritisiert den Anti-Doping-Kampf im Tennis nach der Dreimonatssperre für den Weltranglistenersten Jannik Sinner als „uneinheitlich“ und „sehr unfair“. Der Serbe sagte vor seinem Turnierstart in Doha, Katar: „Die Mehrheit der Spieler hat das Gefühl, dass es zu Bevorzugung kommt. Es scheint, als könne man das Ergebnis fast beeinflussen, wenn man ein Topspieler ist und Zugang zu den besten Anwälten hat.“
Djokovic verglich die Sperren für Sinner und Iga Swiatek, die ehemalige Nummer eins, die nach einem positiven Dopingtest nur für einen Monat suspendiert worden war, mit anderen Dopingfällen im Tennis. Die Rumänin Simona Halep und die Britin Tara Moore sowie „einige andere Spielerinnen, die vielleicht weniger bekannt sind, kämpfen seit Jahren darum, ihre Fälle zu klären, oder sind seit Jahren gesperrt“, sagte der 38-Jährige. Es fehle an Einheitlichkeit und Transparenz.
Auch Alexander Zverev, der aktuell beste deutsche Tennisspieler, blickt mit Verwunderung auf den Ausgang des Verfahrens: Der Prozess bis hin zu Sinners dreimonatiger Dopingsperre sei „seltsam“, sagte der Hamburger, der jüngst das Finale der Australian Open in Melbourne gegen Sinner verloren hatte. Entweder man habe sich „nichts zuschulden kommen lassen, dann sollte man überhaupt nicht gesperrt werden“, sagte Zverev am Rande des ATP-Turniers in Rio de Janeiro: „Aber wenn man sich etwas zuschulden kommen lässt, dann sind drei Monate für die Einnahme von Steroiden keine Sperre, oder?“
Sinner hat mit der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) überraschend einen Vergleich geschlossen und einer dreimonatigen Sperre zugestimmt. Der Italiener darf bis zum 4. Mai nicht bei Turnieren antreten. So verpasst er keines der wichtigen Major-Turniere, nur weniger bedeutende wie die BMW Open im April in München. An den French Open im Mai in Paris kann er schon wieder teilnehmen.
Die Wada ließ im Gegenzug ihre Klage vor dem internationalen Sportgerichtshof Cas fallen, mit der sie die Entscheidung der International Tennis Integrity Agency (Itia) überprüfen lassen wollte. Die Itia ist für die Dopingbekämpfung im Tennis zuständig, sie hatte Sinners Argumentation akzeptiert, dass das Steroid Clostebol bei einer Behandlung durch einen Physiotherapeuten unabsichtlich in seinen Körper gelangt sei, und ihn daraufhin freigesprochen. Auch die Wada sah keine Absicht, aber eine Teilschuld bei Sinner.
Experte Sörgel: „Das Ende des Anti-Doping-Systems in seiner bisherigen Form.“
Djokovic forderte grundsätzliche Konsequenzen: „Es ist an der Zeit, uns wirklich mit dem System zu befassen, denn das System und die Struktur funktionieren nicht für die Dopingbekämpfung, das ist offensichtlich.“ Das Problem sei das „mangelnde Vertrauen“ der Spielerinnen und Spieler in die Wada und die Itia.
Eine ähnliche Grundsatzkritik hatte am Wochenende die Spielervereinigung PTPA geübt, die einst von Djokovic mitgegründet wurde. Das gesamte, unübersichtliche „System“ sei problematisch, es fehle zudem an Reformwillen. „Die angebliche Einzelfallentscheidung ist in Wirklichkeit nur eine Vertuschung unfairer Geschäfte und inkonsistenter Lösungen“, schrieb die PTPA und beklagte einen Mangel an Transparenz und Glaubwürdigkeit.
Der deutsche Pharmakologe und Doping-Experte Fritz Sörgel kritisierte den Vergleich hart: Er sei „das Ende des Anti-Doping-Systems in seiner bisherigen Form“. Im Sender Sport 1 sagte er über die Wada: „Das Ausmaß, in dem sie Sinner hier entgegenkommt, ist im Ergebnis die völlige Aushebelung des Prinzips der ‚Strict Liability‘, der kompromisslosen Eigenverantwortung des Athleten, welche Substanzen in seinen Körper kommen.“ Die Folgen? „Verheerend. Damit verliert das System einen Anker.“ Auf Sinners und ähnliche Fälle werde sich „in Zukunft jeder berufen und eine milde Strafe für einen positiven Dopingtest einfordern können – solange ihm irgendeine dürre Ausrede dafür einfällt“.
Die Wada weist die Vorbehalte gegen den Vergleich zurück. Der Fall Sinner sei „meilenweit von Doping entfernt“, sagte Wada-Chefjurist Ross Wenzel der britischen BBC. Sörgel hat dazu eine andere Meinung. „Wir reden hier vor allem davon, dass die in die Muskulatur eingedrungene geringe Menge Clostebol eine Beschleunigung der Regeneration bewirkt“, sagte der Experte. Zudem, sagte er, sei anhand der Urintests nicht auszumachen, wie hoch die Konzentration der verbotenen Substanz beim Einsatz tatsächlich war.