Die Ahnengalerie ist ein zentrales Element der Inalpi Arena in Turin während der ATP-Finals. Man kommt an den großen Protagonisten des Tennissports die Woche über kaum vorbei, bei jeder Gelegenheit flirrt Ivan Lendl über die großen Bildschirme, Boris Becker, Roger Federer, John McEnroe. Es mag keiner der vier Grand Slams sein, aber das Turnier zum Jahresende zeichnet sich eben dadurch aus, dass dort ausschließlich Spieler antreten, die bereits die Höhen ihrer Sportart erreicht haben – und die sich auf die Suche nach dem Besten des jeweiligen Jahres begeben.
Jannik Sinner ist nun das neueste Mitglied in dieser Reihe großer Figuren der Tennishistorie, und seinen Platz dort hat er sich am Sonntagabend redlich verdient: Mit 6:4 und 6:4 besiegte er im Endspiel auch noch den US-Amerikaner Taylor Fritz, zum Abschluss einer beeindruckenden Woche: Ohne Satzverlust ist er gegen die Konkurrenten geblieben, das hat beim Finalturnier zuletzt im Jahr 1986 Lendl höchstselbst vollbracht. Die Dominanz, die Sinner derzeit auf dem Platz ausstrahlt, erinnerte tatsächlich an die allerbesten Zeiten des gebürtigen Tschechen. Gegner Fritz etwa sagte: „Er ist nicht nur die Nummer eins der Welt, er spielt auch auf diesem extrem hohen Level.“

Tennis:Sinner wird seinen Dopingfall nicht los
Die Welt-Anti-Doping-Agentur legt Berufung gegen den Freispruch des Weltranglisten-Ersten ein und fordert eine Sperre von ein bis zwei Jahren. Der Italiener reagiert „enttäuscht und überrascht“.
Der Konkurrenz scheint der Italiener derzeit etwas enteilt zu sein, wahrlich nicht nur bei den Weltranglistenpunkten. Das ist der Eindruck, der aus Turin bleibt. Der Weltranglistensechste Casper Ruud aus Norwegen etwa wirkte im Halbfinale zeitweise wie ein Erstrundengegner bei einem kleinen Turnier an einem Montagvormittag. So freundlich und zurückhaltend Sinner sich in Interviews gibt, so eiskalt ist er auf dem Platz, insbesondere mit den zwei Siegen bei den Hartplatz-Grand-Slams in Melbourne und New York im Rücken.
Auch die deutschen Doppelsieger sind von der Stimmung in Turin begeistert
Tennis sei „unvorhersehbar“, sagte Sinner am Sonntagabend noch. Für ihn gilt das aktuell weniger auf dem Platz, eher schon in Bezug auf die bevorstehende Anhörung vor der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Die ist zwar immer noch nicht genau terminiert, eine mögliche Dopingsperre aber könnte Sinners Status als Nummer eins derzeit gefährlicher werden als alle Konkurrenten. Und natürlich dürfte von einem finalen Urteil der Wada nicht unwesentlich abhängen, ob er auch eines fernen Tages noch zu den ganz großen Figuren seiner Sportart zählen wird. Sinner war im vergangenen März zweimal positiv auf das verbotene anabole Steroid Clostebol getestet und später von einem unabhängigen Schiedsgericht freigesprochen worden. Man glaubte ihm, dass sein damaliger Physiotherapeut die Kontamination verursacht hatte.
In Italien flimmert Sinner bis auf Weiteres über alle Bildschirme, voraussichtlich sogar bis 2030 – denn inmitten der Siegerehrung gab ATP-Chef Andrea Gaudenzi vor dem heimischen Publikum bekannt, dass das Finalturnier bis 2030 in Italien stattfinden wird. Turin bleibt auch im kommenden Jahr der Austragungsort, danach könnte es zu einem Wechsel nach Mailand kommen. Die Mitbewerber aus Saudi-Arabien jedenfalls bekamen keinen Zuschlag. Unter dem Eindruck der zurückliegenden acht Tage war das nachzuvollziehen. 183 000 Tickets wurden im Verlauf der Woche abgesetzt, alle Turniertage waren restlos ausverkauft, das wäre im Wüstenstaat kaum vorstellbar.
Eine beeindruckende Atmosphäre bieten die Norditaliener zudem, wohlgemerkt nicht nur für ihren Helden Sinner. Der zweitplatzierte Fritz wurde ebenso ausufernd mit Sprechchören bedacht, und auch die Deutschen Kevin Krawietz und Tim Pütz lobten das Publikum und die Stadt nach ihrem Doppelsieg am Sonntagnachmittag in den höchsten Tönen. Eines der „besten Turniere des Jahres“ sei Turin für die Spieler. Die finden sich inmitten eines Tennisbooms wieder, von dem auch andere Turniere profitieren werden. Die Veranstalter der BMW Open in München etwa, die im kommenden Frühjahr erstmals als Turnier der 500er-Kategorie ausgetragen werden, nutzten umgehend die Gunst der Stunde: Für den April ist beim MTTC Iphitos neben Alexander Zverev und Fritz nun auch Jannik Sinner angekündigt.