Andy Murray bei den US Open:Der Undertaker motzt sich zurück

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Fast draußen, nun trotzdem eine Runde weiter: Andy Murray. (Foto: USA TODAY Sports)

Andy Murray liefert bei den US Open gegen Yoshihito Nishioka eine epische Partie. Kurioserweise könnte ihm die Corona-Pandemie bei seinem Comeback geholfen haben.

Von Jürgen Schmieder

Eine Geschichte über Andy Murray muss wohl beim Wrestling beginnen, der Show-Sportart der Schaumschläger und Volks-Bespaßer. Es gab da einen Typen, der hieß Undertaker, an bedeutsamen Kampfabenden wurde er häufig vermöbelt und in einen Sarg gesteckt. Das Publikum johlte, es kannte ja die Dramaturgie: Irgendwann, wenn vermeintlich keiner mehr damit rechnet, würde er auferstehen und in die erschrockenen Gesichter der Gegner blicken, und dann wird er diese Geschichte vom Niemals-Aufgeben und Doch-noch-Gewinnen erzählen. Videos vom sich erhebenden Undertaker sind ein fester Bestandteil der Popkultur, die Leute stellen sie immer dann bei sozialen Medien ein, wenn jemand ein unfassliches Comeback schafft.

Murray, 33, ist der Undertaker des Tennis, er hat am Dienstag zum zehnten Mal in seiner Karriere einen 0:2-Satzrückstand aufgeholt und noch gewonnen; das haben vor ihm nur Boris Becker, Aaron Krickstein (USA) und Roger Federer (Schweiz) geschafft. Gewöhnlich johlen die Leute bei Murray ebenfalls, wenn sie die Anzeichen für eine Rückkehr ins Match entdecken: Der Brite motzt, vor allem über sich selbst, und er setzt so eine Energie frei, die andere Sportler implodieren lässt, bei Leuten wie Becker (ebenfalls ein Virtuose der Selbstgeißelung) und Murray für zusätzliche Kraft und Konzentration sorgt.

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Allerdings hat es Murray ein bisschen übertrieben gegen Yoshihito Nishioka (Japan), der Spielverlauf würde selbst beim Catchen als unglaubwürdig gelten, er erhob sich gleich mehrere Male aus dem Sarg.

Murray plagt sich seit 2013 mit Rücken und Hüfte

Nishioka hatte die ersten beiden Sätze gewonnen und führte mit einem Break im dritten Durchgang. Murray motzte und kam zurück. Er hatte im vierten Satz einen Matchball, Murray schimpfte mit sich selbst und wehrte ihn ab. Er führte im entscheidenden Durchgang mit einem Break - Murray erhob sich und gewann diese Partie nach mehr als viereinhalb Stunden mit 4:6, 4:6, 7:6(5), 7:6(4), 6:4.

Das wirklich Fantastische an Murray ist, dass er abseits dieser Comebacks aber so was von gar nichts mit Wrestling zu tun hat, wo sich die Akteure (und mittlerweile auch die Protagonisten vieler anderer Sportarten) nach Siegen aufführen, als hätte sie jemand in ein mit Kokain gefülltes Fass geworfen. Murray dagegen analysiert solch unvergessliche Partien, wie ein Vater ein Tischtennismatch gegen seinen Sohn analysieren würde. Auf die erste Frage beim Videogespräch mit Journalisten sagte er, es ging wohlgemerkt um seine Gefühle nach diesem Wahnsinns-Comeback: "Ja, das war jetzt nicht unbedingt die beste Partie meines Lebens. Ich habe zunächst überhaupt keine Balance gefunden: Ich war entweder zu vorsichtig und habe ihn die Ballwechsel diktieren lassen, oder ich war zu forsch und habe Fehler gemacht. Ich kann besser spielen, aber körperlich war es okay."

Kurzer Einschub, es fehlt ja ein wichtiges Detail dieser Geschichte: Murray plagt sich seit Juni 2013 mit Rücken und Hüfte. Er ist mittlerweile derart häufig operiert worden, dass Metalldetektoren Alarm schlagen, wenn er sie passieren möchte. Anfang 2019 deutete er das Ende der glanzvollen Laufbahn (drei Grand-Slam-Siege, zwei Goldmedaillen bei Olympia) an. Nach einem typischen Murray-Comeback bei den Australian Open gegen Roberto Batista Agut, das er allerdings verlor, gab es auf den Leinwänden bereits Abschiedsgrüße von Kollegen wie Federer, Novak Djokovic und Caroline Wozniaki zu sehen.

"Ich war in den vergangenen drei Jahren häufig schlecht gelaunt, ich hatte andauernd Schmerzen und wusste nicht, ob ich so noch Tennis spielen wollte", sagt Murray nun über diese Zeit, in der er bisweilen Probleme hatte, sich selbst Socken und Schuhe anzuziehen: "Die Lebensqualität hat sich nun deutlich verbessert, und ich bin deshalb auch besser gelaunt." Ist es möglich, dass die Coronavirus-Pandemie, so schrecklich sie für die gesamte Welt auch sein mag, Murray ein klein wenig geholfen hat? Er hatte ja seit der Niederlage gegen Agut Anfang 2019 kein Grand-Slam-Einzel mehr gespielt, und es gab da ja immer eine Karotte, der es vielleicht doch nachzujagen lohnte: noch eine Wimbledon-Teilnahme, vielleicht nochmal Olympia. Nun jedoch war Pause, für alle.

Murray konnte in aller Ruhe trainieren, er konnte sich auch Pausen gönnen, die er wohl dringend brauchte. Beim Masters-Turnier in New York vor Beginn der US Open bestritt er seine ersten offiziellen Partien in diesem Jahr, er besiegte zuerst den wilden Frances Tiafoe (USA) und rang danach Alexander Zverev trotz Break-Rückstand im entscheidenden Durchgang nieder. "Ich vermisse die großen Events", sagte er in der vergangenen Woche: "Ich weiß nicht, wie viele große Turniere ich angesichts meiner Verletzungen noch werde spielen können."

Es ist ein besonderes Turnier in diesem Jahr, und die Auferstehung von Murray war auch deshalb noch ein bisschen außergewöhnlicher, weil sie nicht von johlenden Zuschauern begleitet wurde, sondern von Kollegen; gesetzte Spieler haben Lounges in den VIP-Logen: "Die Plätze, von denen aus wir die Spiele verfolgen können, sind brillant." Mit jedem Undertaker-Moment kamen noch ein paar mehr Spieler auf die Balkone, Dominic Thiem zum Beispiel, Naomi Osaka oder auch Murrays Bruder Jamie: "Normalerweise suche ich in solchen Momenten Blickkontakt zu Zuschauern. Das geht ja heuer nicht. Es hilft deshalb, ein paar bekannte Gesichter zu sehen, ob das nun mein Bruder ist, mein Trainer oder mein Schwiegervater. Andererseits kann einen das auch ablenken, wenn man weiß, dass da oben die besten Spieler der Welt sitzen und zuschauen. Federer bei Olympia in London in der Box von Wawrinka, das war dann schon ziemlich komisch."

Es ist erfrischend, wie augenzwinkernd und selbstironisch Murray über sich ("Ich habe einen Notfall angemeldet, weil man nur dann in die Eiswanne darf") und seinen Körper ("Das Schlimmste gerade sind die Zehen") und dieses Comeback ("Ich habe ganz vergessen, dass ich einen Matchball abgewehrt habe") spricht. Eine Geschichte über Murray muss deshalb mit dem unvergessenen Comic enden, in dem Charlie Brown seinem Hund mitteilt: "Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy." Dessen Antwort: "Das stimmt, aber an allen anderen Tagen tun wir das nicht." Eines Tages wird Murray seine Karriere beenden. An allen anderen Tagen jedoch tut er das nicht.

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