Tennis:Mit unermesslichem Kämpfergeist

Andy Murray bei den Australian Open 2023

Knapp den Rekord verpasst: Andy Murray gewinnt gegen Thanasi Kokkinakis im zweitlängsten Match der Australian-Open-Geschichte - und das nach einem 4:6, 6:7 (4), 2:5-Rückstand.

(Foto: Hannah Mckay/Reuters)

Nach 5:45 Stunden erreicht Andy Murray um 4.05 Uhr die nächste Runde der Australian Open und kritisiert den Turnierplan anschließend als "Farce". Das nächste Gefühlsdrama bahnt sich bereits an.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Nur acht Stunden nach dem irrsten Match, an dem Andy Murray mitgewirkt hatte, war er zurück. Schlurfend schritt er den Gang im Spielerbereich entlang, wie ein Video zeigte, das die Australian Open ins Internet stellten. Ein Mann passierte ihn und wedelte huldigend mit dem rechten Arm, dazu verbeugte er sich. Murray lächelte kurz und schlurfte weiter, die Tennistasche linksseitig geschultert.

5:45 Stunden lang hatten sich Murray und der Australier Thanasi Kokkinakis in der Nacht gegenseitig malträtiert, die beiden wurden in der Margaret Court Arena gefeiert wie Rockstars, als sie nach dem Matchball mit regungsloser Mimik aufeinander zuschritten. Sie wirkten regelrecht paralysiert. 4.05 Uhr war es da. Am Morgen. In der Geschichte des Grand-Slam-Turniers in Melbourne hat es nur eine Partie gegeben, die länger dauerte, das war das legendäre Finale zwischen Novak Djokovic und Rafael Nadal 2012; damals besiegte der Serbe den Spanier nach 5:53 Stunden und zerriss sein Hemd. Das tat Murray nicht, dafür hatte er zwei bemerkenswerte Auftritte nach seinem spektakulären Erreichen der dritten Runde.

Zunächst gab er ein Interview auf dem Platz, bei dem den im Stadion verbliebenen Menschen abermals der Puls anstieg, viele trugen dicke Jacken, es war deutlich abgekühlt, auf nur 13, 14 Grad Celsius. John Fitzgerald, 62, früher ein vorzüglicher Doppelspieler, fragte natürlich nach, wie Murray die Wiederauferstehung gelang und er nach einem 4:6, 6:7 (4), 2:5-Rückstand noch die letzten drei Sätze mit 7:6 (5), 6:3, 7:5 gewinnen konnte. Er wisse es selbst nicht, rätselte Murray, aber eines versicherte er: "Ich habe ein großes Herz." Diese Antwort griff Fitzgerald sofort auf und schmeichelte Murray mit den Worten: "Ich denke, an dir ist alles groß." Da sagte Murray in seiner typisch trockenen Art: "Ich bin nicht sicher, ob meine Frau da zustimmen würde." Bei so viel Schlüpfrigkeit johlten die Zuschauer natürlich sofort auf.

Zwischendurch legt sich Murray mit der Schiedsrichterin wegen einer Toilettenpause an

Anschließend trat Murray noch zu einer Blitz-Interview-Runde im Stehen vor die Presse, schnell war die Gemütslage sehr ernst. Murray sprach von einer "Farce", dass diese Partie so spät begann und so spät zu Ende gehen durfte. "Wenn mein Kind bei dem Turnier ein Ballkind wäre und um fünf Uhr nach Hause käme, würden wir als Eltern schimpfen", sagte er und erinnerte daran: "Wir reden davon schon die ganze Zeit, seit Jahren. Wenn man die Matches in der Night Session so spät ansetzt und es diese Bedingungen gibt, dann passieren solche Dinge."

Zu denen im Übrigen auch ein verbaler Ausbruch von Murray gehörte, als ihm Schiedsrichterin Eva Asderaki einmal den Gang zur Toilette verweigerte, die Regeln erlauben diese nur zwischen zwei Sätzen. "Es ist ein Witz ... es ist respektlos", hatte Murray getobt, Asderaki, eine renommierte Spielleiterin, sah dabei aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Doch Regel war Regel, so ist das im Tennis. Es war eine komplizierte Nacht nicht nur für die zwei Spieler auf dem Feld.

Tennis: Das Spielgerät zerdeppert: Thanasi Kokkinakis reagiert auf den jetzt schon legendären Ballwechsel gegen den Briten Andy Murray, bei dem der Australier vier Schmetterbälle vergibt.

Das Spielgerät zerdeppert: Thanasi Kokkinakis reagiert auf den jetzt schon legendären Ballwechsel gegen den Briten Andy Murray, bei dem der Australier vier Schmetterbälle vergibt.

(Foto: Hannah Mckay/Reuters)

Murrays Sätze drangen natürlich zu Turnierdirektor Craig Tiley vor, der den Zeitplan aber verteidigte. "Wir hatten in den vergangenen Tagen extreme Hitze, wir hatten mehr als fünf Unterbrechungen wegen Regens, wir hatten Kälte", sagte er im Fernsehen bei Nine's Today. Für Tiley, der auch der Chef von Tennis Australia ist und als machtbewusster Entscheider gilt, stand daher fest: "Wir müssen auch die Matches schützen. Wenn man abends nur ein Match ansetzt und es eine Verletzung gibt, hat man nichts für die Fans oder Sender." Zudem habe man "nicht viele Optionen", denn es gehe darum, dass man "die Spiele in 14 Tagen durchziehen" müsse.

Nach diesem Turnier, das kündigte Tiley an, solle alles noch mal genau analysiert werden. Solche Sätze hat man in Australien aber schon häufiger gehört, nicht zuletzt 2008, als Lleyton Hewitt erst um 4:34 Uhr morgens seinen Matchball gegen Marcos Baghdatis verwandelte. Verändert hat sich danach nur wenig.

Murray hat nun bereits elf Mal einen 0:2-Satz-Rückstand in einen 3:2-Sieg gedreht

Kokkinakis, der bei den Australian Open vor einem Jahr mit seinem Kumpel Nick Kyrgios in einer Art Dauerparty zum Titelgewinn in der Doppelkonkurrenz gestürmt war, sowie vor allem Murray hilft diese Ankündigung von Tiley im Nachhinein ohnehin wenig. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als das Match zu spielen und zu spielen und zu spielen. "This fucking sport man ...", twitterte Kokkinakis, der mit seinem harten Aufschlag und seiner brachialen Vorhand Murray an den Rand einer Niederlage gebracht hatte. Aber eben nur an den Rand.

Murray, der zuvor schon sagenhafte zehn Mal einen 0:2-Satz-Rückstand in einen 3:2-Sieg gedreht hatte und nun Legenden wie Boris Becker und Roger Federer abgehängt hat, bewies mal wieder, dass ein unermesslicher Kämpfergeist mehr bewirken kann als exzellente Schläge. Beispielhaft war seine intensivste Rettungstat bei einem Ballwechsel, als Kokkinakis dreimal am Netz stehend schmetterte, Murray den Ball jedes Mal zurückbugsierte, Kokkinakis nochmals von der Grundlinie aus einen Überkopfball schlug - und Murray doch nach einem Vorhandfehler des 26-Jährigen den Punkt machte.

Sicherlich ist der frühere Weltranglisten-Erste, derzeit auf Platz 66 geführt, nicht so gut wie zu seinen besten Zeiten. Aber auf der ganzen Welt gibt es keinen besseren Spieler mit künstlicher Hüfte, das steht unbestreitbar fest.

Tennis: Fairer Sieger, fairer Verlierer: Andy Murray und Thanasi Kokkinakis, die Protagonisten eines unvergesslichen Abends, nach dem Matchball.

Fairer Sieger, fairer Verlierer: Andy Murray und Thanasi Kokkinakis, die Protagonisten eines unvergesslichen Abends, nach dem Matchball.

(Foto: Peter Dovgan/Imago)

Das nächste Gefühlsdrama bahnt sich derweil schon wieder an, denn Murray trifft an diesem Samstag, wieder in der Margaret Court Arena, auf Roberto Bautista Agut. Gegen den Spanier hatte er 2019 in Melbourne nach einer Aufholjagd doch noch in fünf Sätzen verloren, damals hielt er seine berühmte tränenreiche Rede, in der er sein Karriereende ankündigte, die Hüfte war kaputt. Immerhin: Diesmal wird Murray das erste Match der Night Session bestreiten, sie beginnt um 19 Uhr.

Wie das möglich sei, so zu rackern, hatte ihn Fitzgerald auf dem Platz auch noch gefragt, da erklärte Murray: "Mir ist bewusst, dass ich oft nicht besonders glücklich aussehe in meinen Matches, aber in diesen Matches bin ich tief in mir drinnen am glücklichsten." Fast entschuldigend betonte er: "Das bin ich." Und genau deshalb ist er so einmalig.

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