Technik im Sport (I): Gesundheit:Seismograf zwischen den Zähnen

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Teil der Untersuchung: Matthew Stafford, Quarterback der Los Angeles Rams, trägt in dieser Saison einen Sensor-Mundschutz. (Foto: Brian Rothmuller/Icon SMI/imago)

Die Footballliga NFL gewinnt aus den Mundschutz-Sensoren der Spieler allerlei Daten. Sie will daraus ein besseres Verständnis entwickeln, was wirklich bei Zusammenstößen und Gehirnerschütterungen passiert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Zum Beispiel Matthew Stafford. Der Quarterback der Los Angeles Rams klemmt seinen Mundschutz an den Helm, wenn er seinen Kollegen zwischen den Spielzügen die Taktik vorgibt. Dann nimmt er ihn und steckt ihn zwischen die Zähne, er kaut darauf herum wie ein Säugling auf Beiß-Spielzeug, dann nuckelt er daran wie an einem Schnuller. Der Dental-Protektor wirkt nicht besonders bequem, aber er muss nun mal sein, um die Zähne zu schützen - und um wichtige Daten an die medizinische Abteilung der US-Footballliga NFL zu schicken: Die will verstehen, was bei Zusammenstößen mit dem Gehirn passiert, und sie braucht dafür Daten aus dem Mundschutz.

Ja, schon richtig gelesen: Im Mundschutz vieler NFL-Akteure befinden sich in dieser Saison Sensoren, die aufzeichnen, was genau mit dem Kopf eines Menschen passiert, wenn er zu Boden gerissen wird oder mit einem anderen Spieler zusammenprallt, eine Art Seismograf und eine neue Perspektive sozusagen - an Helmen sind bereits seit Jahren Sensoren angebracht. "Wir wollen wissen, was innerhalb des Helms passiert, und näher ans Ziel unserer Forschung rücken", sagt NFL-Chefmediziner Allen Sills: "Der Mundschutz ist die natürliche Wahl, weil er sich nahe am Gehirn befindet und uns erlaubt zu sehen, was mit dem Kopf passiert." Der Mundschutz sei auch deshalb präziser, weil er relativ fest an den Zähnen sitzt; ein Helm wird beim Aufprall häufig verrückt.

Zehn NFL-Franchises sind in dieser Spielzeit an der Studie beteiligt, die kürzlich auf College-Football erweitert worden ist. Sehr vereinfacht ausgedrückt haben die Forscher den Mundschutz mit Sensoren ausgestattet und danach individuell an die Kiefer der Spieler angepasst, damit die keinen Unterschied zu ihren gewohnten Geräten bemerken. Die Sensoren sammeln Daten wie Geschwindigkeit beim Aufprall, Treffpunkt am Kopf, Richtung, Intensität. In Verbindung mit Video-Aufnahmen wollen die Forscher sehen, was genau bei welcher Erschütterung passiert - und dementsprechend Regeländerungen oder Verbesserungen am Equipment vorschlagen.

2013 hat die NFL eine Milliarde Dollar an ehemalige Profis gezahlt, jeder dritte erleidet laut einer Studie Gehirndefekte

Man könnte nun sagen: wow! Zumal sich das Prinzip auch auf andere Kontaktsportarten wie Eishockey, Handball oder Basketball anwenden lässt. Man könnte aber auch sagen: Das wurde aber auch Zeit. Die NFL hatte jahrelang geleugnet, von einem Zusammenhang zwischen Zusammenstößen und schweren Kopfverletzungen gewusst zu haben. 2013 hatte sich die NFL mit einer Zahlung von nahezu einer Milliarde Dollar an ehemalige Profis vom Vorwurf freigekauft, von Gefahren heftiger Zusammenstöße gewusst, sie in Kauf genommen und die Spieler nicht informiert zu haben.

2015 gab die NFL eine Studie in Auftrag, die Ergebnisse waren verheerend: Etwa jeder dritte NFL-Profi dürfte eine ernsthafte Gehirnkrankheit erleben. Die Universität von Boston hatte in 76 Gehirnen ehemaliger Spieler, die sie untersuchte, Defekte entdeckt; insgesamt waren 79 Proben genommen worden. In den fünf Jahren davor hatten sich neun ehemalige Profis getötet, ein möglicher Zusammenhang mit degenerativen Folgen der vielen Zusammenstöße ist nicht auszuschließen. Die Studie hatte nicht nur Auswirkungen auf die Profiliga, sondern auch auf Jugendsport, denn: Wer lässt sein Kind Vollkontakt-Football spielen angesichts dieser gesundheitlichen Prognosen?

Die NFL gibt sich seitdem als Vorreiter bei der Analyse, und sie hat in den vergangenen Jahren einige Regeln geändert: Die medizinische Abteilung hatte etwa festgestellt, dass viele Gehirnerschütterungen passieren, wenn Spieler ihren Kopf senken und andere Akteure rammen. Das ist deshalb seit 2018 verboten. Die Regeländerung ist umstritten, zu den Kritikern gehören nicht nur Traditionalisten, die den gefährlichen Sport verweichlicht sehen, sondern auch Ärzte, die beobachten, dass Akteure vermehrt die Beine der Gegner attackieren und dort für schlimme Verletzungen sorgen.

Seit 2015 ist die Zahl der Gehirnerschütterungen um mehr als ein Drittel zurückgegangen - dank neuer Regeln

Andere Kritikpunkte: Wurden Änderungen herbeigeführt, um die Verletzungsgefahr zu verringern, oder weil spektakuläre Spielzüge wahrscheinlicher sind, wenn die Akteure nicht fürchten müssen, brutal zu Boden gerammt zu werden? Und: Werden sie nicht unvorsichtiger, wenn sie denken, es werde schon nichts passieren, weil sie auf ihre Position abgestimmte und vermeintlich sicherere Helme tragen? Wie dem auch sei: Die Zahl der Gehirnerschütterungen ist seit 2015 um mehr als ein Drittel zurückgegangen, und der Fünf-Stufen-Plan bis zur Rückkehr aufs Spielfeld begünstigt besseren Heilungsverlauf.

Der Mundschutz-Sensor gilt deshalb als revolutionär, weil sich die Studien auf Disziplinen ausweiten lassen, in denen ohne Helm gespielt wird - Handball, Basketball, Fußball. "Ziel ist es, mehr über Mechanismen einer Verletzung zu lernen", sagt Jennifer Langton, bei der NFL zuständig für Innovationen im Bereich Gesundheit: "Je mehr Daten wir haben, desto mehr verstehen wir, wie Verletzungen wirklich passieren - und desto mehr können wir künftig präventiv unternehmen."

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