Technik im Motorsport:Wenn Formel-1-Rennen zur Komödie werden

Technik im Motorsport: Ferrari von vorne: Man kann durcheinander kommen, wenn sich alle um Vettels Fahrzeug kümmern.

Ferrari von vorne: Man kann durcheinander kommen, wenn sich alle um Vettels Fahrzeug kümmern.

(Foto: AFP)

Mensch und Maschine eine Einheit? Bisweilen geht das in der Formel 1 schief. Dann klemmt der Tankstutzen, es fehlt ein Reifen - oder der Computer verrechnet sich.

Von Philipp Schneider

Das Wunderbare an einer Rennserie wie der Formel 1 ist es, dass diejenigen, denen Unheil geschieht oder denen Fehler unterlaufen, immer auf jemanden verweisen können, der sich noch ungeschickter angestellt hat. Dieses Spiel der Verweise und Gegenverweise ließe sich bis in die Unendlichkeit spiegeln, gäbe es da nicht jene Geschichte um den nordirischen Rennfahrer Edmund, genannt Eddie, Irvine junior und sein Team. Denn Irvines Laienspielgruppe hat die Latte im Wettstreit der Dilettanten fast schon unerreichbar hoch eingehängt - als sie sich 1999 mit ihrem Material in der komplexen Welt der Boxengasse verirrte.

Ein Septembertag am Nürburgring. Die Formel 1 feiert Jubiläum, es ist das 50. Jahr ihrer Geschichte. Und Irvine hat eine Idee. Er führt im Ferrari in der Weltmeisterschaftswertung, nun kündigt er seinem Team einen Boxenstopp an. Irvine will auf Regenreifen wechseln. Plötzlich wittert er einen Wetterumschwung. Er verlangt Trockenreifen. Irvine rollt rein, die Mechaniker beginnen zu werkeln. Reifen runter. Reifen dran. Einer schraubt, einer nimmt das alte Gummi ab, ein anderer hängt das neue ein. Gibt es etwas Simpleres?

Auch hinten rechts wird an Irvines Ferrari ein Reifen abgenommen. Ein Mechaniker schleppt ihn weg, er verschwindet aus dem Bild, doch es kommt kein Kollege. Die Sekunden verstreichen, vom Kommandostand schaut Ross Brawn, Ferraris Technikchef, hinüber zur Garage, als formulieren er in Gedanken schon die Kündigungsschreiben für jeden einzelnen seiner Schrauber. Nach 48 langen Sekunden rast Irvine wieder los - die Führung ist futsch.

Das Rennen beendet er als Siebter, die Saison nur als WM-Zweiter. Italiens Medien haben für Wochen ihr Thema. Und zwischen Venedig und Palermo werden die Schaufenster umdekoriert. Dort stehen jetzt Reifen, Hinterreifen. Eine Art Mahnmal dafür, was so alles schief gehen kann, nicht nur im Leben eines Autofahrers. Sogar in Deutschland veranstaltet die Bild nun polyglotte Rechenspiele: "Uno, due, tre. Mamma mia! Wo ist quattro?"

In Melbourne rettete Vettel den Sieg vor Hamilton

Die Formel 1 ist eine extreme Begegnung von Mensch und Technik. Bisweilen entwickelt sie sich zur Konfrontation. Der Mensch ist heutzutage bestens trainiert, die Technik scheint ausgereift zu sein. Im Zusammenwirken aber passieren Dinge, die ins Fach der Komik lappen. Wie jüngst beim Start in die neue Saison in Melbourne. Wieder haben sich die Experten verrechnet. Bei Irvine fehlte einst ein Reifen, bei Lewis Hamilton fehlten zwei bis drei Sekunden.

Bei Irvine versagte der Mensch, bei Hamilton ein Computer. Hoch gescheite Absolventen der Universitäten Oxford und Cambridge hatten den Computer so programmiert, dass er ein falsches Ergebnis ausspuckte. Der Computer behauptete, Hamilton würde seinen Vorsprung behalten, bevor sein Rivale, Ferrari-Pilot Sebastian Vettel, aus der Boxengasse kommt. Irrtum: Vettel kreuzte vor Hamilton zurück auf die Piste und weigerte sich fortan, sich doch noch vom deutlich schnelleren Mercedes überholen zu lassen. Eine Panne, über die der Globus lacht.

Zurück ins Jahr 2008, nach Singapur. Felipe Massa sitzt in seinem Ferrari, den er ausgangs der Boxengasse zum Stehen gebracht hat. Er öffnet das Visier, schaut in den Rückspiegel. In dem erblickt er einen dieser Tankstutzen, die an eine Zapfsäule gehören. Einen Stutzen, der jedenfalls nicht mit abgerissenem Schlauch in einem Auto stecken sollte. Der Ferrari war zu früh losgerollt, einer der Techniker hatte ein falsches Signal gegeben. Tankvorgang interruptus. Ein schräger Augenblick, dem man hinterherweinen möchte - Massa ist mitsamt seinen Tankstutzen inzwischen aus der Formel 1 verschwunden.

Die Formel 1 lebt auch von solchen Missgeschicken im Spannungsfeld von Mensch und Maschine. Die Kuriositäten werden seltener, aber sie erinnern immer wieder daran, dass sich Perfektion auch nicht mit einer Milliarden-Dollar-Investition erkaufen lässt. Und dass der Mensch kein Roboter ist, dass er immer noch die Hauptrolle spielt. Selbstfahrende Fahrzeuge? Die Formel 1 ist weit davon entfernt.

In der Tradition Irvines und Massas steht Hamiltons Funkspruch von Melbourne. Ein Hilferuf in dem Moment, als dem WM-Titelverteidiger dämmerte, dass Vettel nach dem Boxenstopp vorne bleiben würde. "Wie konnte ich zurückfallen? Habe ich einen Fehler gemacht?", fragte Hamilton seine Helfer in der Box. Mittlerweile weiß man: Die Renningenieure von Mercedes hatten die Rennsoftware mit falschen Daten programmiert. Sie waren von einer falschen Deltazeit ausgegangen: also dem Zeitunterschied zwischen einem Wagen, der auf der Strecke bleibt, und einem Wagen, der in die Boxengasse fährt.

Alles wird digitaler - aber ist das gut?

Die Komödie erregt per Definition Heiterkeit durch den Spott über menschliche Torheiten oder über die Missstände der Zeit und die Fragwürdigkeit ihrer Ideale. Insofern war es klassischer Komödienstoff, den Mercedes in Australien bot. Das Team, seit vier Jahren Gewinner von Konstrukteurs-Meisterschaft und Fahrerwertung, stolperte über einen Missstand unserer Zeit: die um sich greifende Digitalisierung. Oder: Die Verdigitalisierung aller Vorgänge, die analog auch funktionierten.

Früher saß auf dem Beifahrersitz jemand, der es verstand, eine Landkarte zu lesen. Heute geben internetbasierte GPS-Systeme minutengenaue Stauwarnungen und Umfahrungstipps raus. Sie wissen, wo der nächste Burger King ist und wo wie viele freie Parkplätze zu finden sind.

Und doch gelingt es vor einigen Jahren dem Busfahrer eines Nürnberger Fanklubs, der zu einem Zweitliga-Spiel beim LR Ahlen reisen möchte, sich zu verfahren. Ahlen liegt in Westfalen in der Nähe von Hamm. Der Bus fuhr nach Aalen ins Kochertal. Landschaftlich schön, sicher. Sportlich aber gab es in Aalen aus Nürnberger Sicht nur eine TV-Übertragung aus Ahlen.

Früher wusste ein Rennfahrer, wann es gefährlich wurde

Falsch bedient, kann Technik tückisch sein. Ein Buchstabe ist schnell falsch eingegeben, und wer als Busfahrer keinen Beifahrer mit Ahnung von Geografie hat, der lässt sich auch nicht vom falschen Pfad bringen, wenn er auf dem Weg von Nürnberg nach Ahlen an Feuchtwangen, Dinkelsbühl und Ellwangen vorbeifährt.

Früher wusste ein Rennfahrer ziemlich gut selber, wann er aufs Gas drücken musste. Wann er beschleunigen musste, um ein Rennen zu gewinnen. Er spürte, wann es gefährlich wurde, weil der Gegner an der Spitze zu enteilen drohte. Hamilton ist einer dieser Rennfahrer von früher. Er kreist zwar in der Gegenwart, aber beseelt ist er vom alten Rennfahrergeist. "Ich hatte genügend in der Hinterhand", klagte er, nachdem er in Melbourne auf Anweisung der Ingenieure vom Gas gegangen war, um Benzin zu sparen und Material zu schonen. Manchmal, fluchte Hamilton, würde "ich lieber meinen Instinkten folgen".

Heutzutage müssen Rennfahrer darauf achten, dass ihr Motor nicht überhitzt, während sie sich in den Windschatten eines perfekt gestylten Autos des Vordermannes saugen. Deswegen ist Überholen schwer bis unmöglich geworden. Hamilton spürt instinktiv, dass es einem richtigen Kerl schnuppe sein sollte, ob ein Motor überhitzt. Wenn die Motorhaube qualmt, würde ein Filmheld wie Steve McQueen lachen, rechts ran fahren, einhändig versteht sich, mit der anderen Hand die Zigarette abaschen. Anschließend würde er den Werkzeugkoffer aufmachen und schrauben. Verklärte Vergangenheit. Heute müssen Rennfahrer aufpassen, dass ein Motor nicht überhitzt, weil das Reglement vorschreibt, dass sie nur drei verwenden dürfen. Drei! Pro Saison! Damit die Kosten nicht explodieren - und die finanzkräftigen Teams die kleinen Rennställen nicht ewig überrunden.

Jüngst hat sich auch wieder Nico Rosberg zu Wort gemeldet. 2016 war er noch Weltmeister im Mercedes, heute ist er Kommentator. Er hat angekündigt, sich nebenbei der Technik zuwenden zu wollen. Was ihn da so fasziniert? Die Entwicklung des autonomen Fahrens.

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