Schon einmal kam die Rettung für den Hamburger SV von seinem kleinsten Spieler. 2015 war das, als der 1,63 Meter große Chilene Marcelo Díaz wenige Sekunden vor Schluss des Relegationsspiels beim Karlsruher SC mit einem (unberechtigten) Freistoß das 1:1 erzielte und der HSV nach einem 2:1 in der Verlängerung noch in der Klasse blieb. Díaz hatte sogar die Courage, dem HSV-Kapitän Rafael van der Vaart die Ausführung des Freistoßes abzuschwatzen ("Tomorrow, my friend"). Nun ruht der Hamburger Glaube an den Klassenverbleib, der nur noch mit einem Sieg gegen Borussia Mönchengladbach bei gleichzeitiger Niederlage des VfL Wolfsburg gegen den 1. FC Köln geschafft werden kann, erneut besonders auf einem forschen Winzling.
Diesmal ist der ebenfalls 1,63 Meter große Hoffnungsträger ein Japaner. Tatsuya Ito wurde von seinen Mitspielern schon spaßeshalber mit Lionel Messi verglichen. In seinem Heimatland denkt man bei ihm ernsthaft an die einst brillante Karriere des Dortmunder Japaners Shinji Kagawa. Der bald 21 Jahre alte Dribbler Ito hat, seit Trainer Christian Titz ihn vor einigen Wochen zum Stammspieler machte, etwas ins Team gebracht, das es in der Bundesliga kaum noch gibt: Er hat mit dem Ball eine Geschwindigkeit und einen Bewegungsablauf, dass selbst erfahrene Verteidiger ihn kaum stoppen können - als wäre er ein flinkes Raubtier. Dazu hat Ito auch den Blick für den am besten postierten Kollegen.
In Frankfurt, beim unglücklichen 0:3 vor einer Woche, haben ihm die Video-Schiedsrichter sein Tor zur 1:0-Führung aberkannt, weil er womöglich ein paar Millimeter im Abseits stand. Er selbst konnte sich nicht erinnern, weil er sich im Spiel eine Gehirnerschütterung zuzog. Nun ist er wieder fit und wird versuchen, die Gladbacher Verteidigung über die Flügel auszuspielen.
Ito hat zunächst nur Kraft für 50 Minuten
Man kann sagen, im Fall Ito haben sogar die längst ausgemusterten HSV-Sportchefs Peter Knäbel und Jens Todt gut gearbeitet. Knäbel hatte sich 2015 extrem bemüht, den damals 17 Jahre alten Junioren-Nationalspieler vom Kashiwa Reysol Football Club loszueisen. Und Todt hat im Dezember 2017, nach dessen ersten Bundesligaspielen, den am Saisonende auslaufenden Vertrag bis 2021 verlängert. Dabei hatte Ito, der zunächst nur Kraft für 50 Minuten in der Bundesliga hatte, festgestellt, "dass japanischer und deutscher Fußball zwei verschiedene Sportarten sind". Es sei nicht einfach gewesen, sich auf das neue Tempo und die Härte der Zweikämpfe einzustellen.
Ein besonders harter Kritiker ist dabei der japanisch-deutsche Kollege Gotoku Sakai. Den HSV-Kapitän nennt Ito als Vorbild für professionelle Berufseinstellung. Sakai monierte nach Itos ersten Einsätzen: "Er ist jung, aber es hilft uns nicht weiter, wenn er jedes Mal nach 50 bis 55 Minuten runter muss. Das ist kein Bundesliga-Niveau." Doch Ito arbeitete an sich, auch im Fitness-Studio. Inzwischen hält er fast 90 Minuten durch. Und nach seinem Debüt in der japanischen U21- Auswahl im März hält sich das Gerücht, er könne sogar noch fürs japanische WM-Aufgebot nominiert werden.
Das hätte er auch Christian Titz zu verdanken, der schon sein Trainer bei der U21 war, die in der Regionalliga spielt. Titz setzt auf fußballerische Stärken. Und wenn man Itos Leitbilder sieht, weiß man, wo er hin will: Eden Hazard (1,73, FC Chelsea), Franck Ribéry (1,70, FC Bayern) sowie die beiden für Neapel spielenden Dries Mertens (1,69) und Lorenzo Insigne (1,63). Doch vorerst liegt sein Fokus auf dem letzten Spieltag. "Wir geben nicht auf", sagt er in gutem Deutsch. Man glaubt es ihm sogar.