SZ-Serie "Die besten Sportfilme", Platz 6:Der schmerzhafteste Fall eines Sporthelden

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Gedankenschwerer Rennfahrerphilosoph: Ayrton Senna. (Foto: EPA/dpa)

Asif Kapadia hat mit der Dokumentation "Senna" ein wuchtiges Monument über das Leben und Sterben des dreimaligen Formel-1-Weltmeisters erschaffen. Die Bilder, die er benutzt, sind überwältigend.

Von Philipp Schneider

Sportfilme haben es von Natur aus schwer: Der geneigte Sportfan erkennt sofort, dass selbst begnadete Schauspieler nicht zwingend Topathleten sind und Topathleten noch seltener begnadete Darsteller. Doch in den vergangenen Jahren ist die Auswahl gelungener Filme immer größer geworden: Die SZ-Sportredaktion stellt 22 von ihnen vor und kürt damit die - höchst subjektiven - 22 besten. Diesmal Platz 6 - "Senna".

Der Mund ist weit aufgerissen, die Augen halb geschlossen. Ayrton Senna kann seine Hände nicht mehr bewegen, sie sind so starr, dass sich seine Kollegen über das Cockpit beugen müssen, um sie vom Handschuh zu befreien. Einen Finger nach dem anderen biegen sie gerade. Wie mit der Brechstange. Sie müssen einen Rennfahrer mit Gewalt aus seinem Sitz befreien, der eins geworden ist mit seinem Rennwagen. Werden musste. Sein Getriebe ist defekt, Senna hatte nicht mehr schalten können und selbst die Kurven im sechsten Gang nehmen müssen.

Wer von 300 auf 70 km/h herunterbremst, ohne herunterschalten zu können, der wird vom Motor im sechsten Gang immer weiter und unerbittlich vorangeschoben. Weil eine solche Fahrt eigentlich nicht möglich ist, hat Senna an deren Ende zumindest Krämpfe in den Schultern und im Nacken, absurde Schmerzen, wie er später erzählt. Und in jenem Augenblick, in dem er im achten Anlauf seinen ersten Heimsieg in Brasilien zur Welt gebracht hatte, als sich sogar die Fußballer Brasiliens kollektiv in Rennfahrer verwandelten, sieht Senna aus wie von Edvard Munch mit Öl und Tempera auf Pappe gebannt. Die Kamera hält drauf auf seinen Mund.

Man will ihn hören. Aber dieser Schrei ist stumm.

Sennas ewig ersehnter Triumph beim Große Preis von Brasilien im Jahr 1991 ist nicht die zentrale Episode in Asif Kapadias wuchtigem Monument voller Hast über das Leben und Sterben des dreimaligen Formel-1-Weltmeisters. Der amerikanische Dokumentarfilmmacher hat es aus hunderten Stunden Archivmaterial zusammengeschnitten, darunter Ferienvideos der Familie, mit Senna in Badehose, Senna beim Wasserski, Senna mit ordentlich Lippenstift-Küsschen auf den Wangen.

Aber die Szene ist eine der leisesten. Der Zuschauer, der ja von Anbeginn weiß, dass er mit Senna auf die Tamburello-Kurve zusteuert wie die Titanic auf den Eisberg, kann sich nach dem Brasiliensieg letztmals an dem wohl trügerischen Gedanken laben, das geschilderte Leben sei ein erfülltes gewesen. Ehe es nach 34 Jahren endet - als sich in Imola am 1. Mai 1994 ein Teil der Radaufhängung eines Williams durch Sennas Helm bohrt. Und Kapadia ist gnadenlos. Er lässt den Zuschauer den Aufprall in die Mauer aus der Perspektive der Bordkamera erleben, lässt die Bergungskräfte gefühlte Stunden an deformierten Rennwagen werkeln. Es ist kaum auszuhalten. Und so sollte es ja sein.

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Kapadia hinterfragt nicht die Heiligenaura Sennas, das ist nicht das, was er sich vorgenommen hat. Er verschärft sogar den Mythos des sensiblen, gedankenschweren Rennfahrerphilosophen, indem er Senna sagen lässt, seine schönsten Tage seien jene als Teenager im Kart gewesen: "No money. No politics. Pure racing." Dass sich so viel Rennfahrerromantik nicht ohne Knirschen fügen will zu jenem kühl kalkulierten Rammstoß, den Senna 1990 in Suzuka seiner Nemesis Alain Prost verpasste, um sich so den zweiten Weltmeistertitel zu sichern? Nörgelei! Es sei ihm gar nicht darum gegangen, die andere Seite zu zeigen, hat Kapadia kürzlich im SZ-Interview ausgeplaudert. "Es ging um meine Sicht der Story." Es ist die Sicht eines Fans.

Auch eine Dokumentation bildet nie die Realität ab. Wer das glaubt, übersieht die Filter, durch die der Zuschauer das Leben eines anderen betrachtet. Kapadia legt schon damit einen Filter über die Lebensgeschichte Sennas, indem er das Material auswählt und arrangiert. Und sein Fundus ist überwältigend. Es haut auch jene aus der Kurve, die dachten, sie hätten schon alles gesehen oder gelesen über Sennas Leben, das ja wahrlich aus mehr bestand als aus Sektflaschen, Rundenzeiten und Reifenwechseln. Kapadias Filter lenken die Erzählung in eine Richtung, in der Sennas Zusteuern auf die Tamburello rückblickend den Nimbus des Unausweichlichen erfährt. Er zeigt Senna als Gehetzten, der an zu vielen Fronten kämpft: gegen Prost, gegen die Uhr, mit den Erwartungen der Brasilianer.

Was für ein Fundstück der Sportgeschichte!

Und dann ist da ja auch noch Jean-Marie Balestre, der damalige Chef des Automobil-Weltverbands Fia, Franzose wie Prost, der von Robert De Niro gespielt werden müsste, wollte man seine windige Aura neu aufleben lassen in der Gegenwart. Es ist sogar so: In der gewaltigen Szene, bei der Fahrerbesprechung vor dem Großen Preis von Deutschland 1991, die Kapadia rausgekramt hat, sieht Balestre aus wie vier Jahre später De Niro in seiner Rolle als Sam Rothstein in Martin Scorseses Mafiaepos "Casino".

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Mit seinen zum Nacken gegelten Haaren und seiner großen Flieger-Sonnenbrille lauscht Balestre am Hockenheimring einem leidenschaftlichen Vortrag Sennas. Einer Philippika für mehr Sicherheit auf der Strecke! Senna verlangt, die Reifenstapel als Streckenmarkierung durch Plastikkegel zu ersetzen. Balestre beharrt auf den Regeln, Senna springt auf, Balestre fast sich an den Hals, streckt ihm aufgeregt das Regelbuch entgegen. Und dann also spricht Balestre einen Satz, der entlehnt zu sein scheint aus dem Repertoire der Cosa Nostra. "Es gibt viele Meinungen, aber nur eine richtige, und das ist immer meine." Die Piloten murren. Balestre kriegt die Kurve, gerade noch, indem er sagt, seine Meinung sei nun, dass über die Frage abgestimmt werden solle. Die Abstimmung bringt Senna eine klare Mehrheit. Was für ein Fundstück der Sportgeschichte!

Kapadia hat sich vorgenommen, der Nachwelt den charmanten Mann einzufrieren, der schon seine Zeitgenossen betörte. Hierfür arrangiert er meisterhaft die Bilder, die bis heute vom schwermütigsten Drama und schmerzhaftesten Fall eines Helden erzählen, den der Sport jemals schrieb.

Senna, 2010, Regie Asif Kapadia

Bereits erschienene Rezensionen:

Platz 22: "Free Solo"

Platz 21: "Rush"

Platz 20: "Die nackte Kanone"

Platz 19: "Slap Shot"

Platz 18: "Foxcatcher"

Platz 17: "The Wrestler"

Platz 16: "Nowitzki. Der perfekte Wurf"

Platz 15: "Le Grand Bleu"

Platz 14: "White Men Can't Jump"

Platz 13: "I, Tonya"

Platz 12: "Battle of the Sexes"

Platz 11: "Jerry Maguire"

Platz 10: "Rocky III"

Platz 9: "The Rider"

Platz 8: "Moneyball"

Platz 7: "Million Dollar Baby"

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