Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie "Die besten Sportfilme", Platz 4:Gefangen in der Hülle des eigenen Mythos

In "Diego Maradona" ermöglicht Regisseur Asif Kapadia einen beklemmend intimen Einblick in das Leben der gestürzten Ikone. Er kommt Maradona dabei nah - ohne ihn vorzuführen.

Von Boris Herrmann

Sportfilme haben es von Natur aus schwer: Der geneigte Sportfan erkennt sofort, dass selbst begnadete Schauspieler nicht zwingend Topathleten sind und Topathleten noch seltener begnadete Darsteller. Doch in den vergangenen Jahren ist die Auswahl gelungener Filme immer größer geworden: Die SZ-Sportredaktion stellt 22 von ihnen vor und kürt damit die - höchst subjektiven - 22 besten. Diesmal Platz 4 - "Diego Maradona".

Im Jahr 1984 wechselt der teuerste Fußballer der Welt in die ärmste Stadt Italiens, vom FC Barcelona zum SSC Neapel, und die Geschichte dieser grandiosen Dokumentation beginnt mit einer noch grandioseren Fehleinschätzung. Was er sich von Neapel erwarte, wird Diego Maradona von einem Reporter gefragt. "Ich erwarte mir Ruhe", sagt er. Ruhe!

85000 Menschen warten da schon im Stadio San Paolo des SSC Neapel auf die Ankunft des damals 23-jährigen Argentiniers. Seine erste Pressekonferenz beginnt mit Ekstase und endet im Fiasko. Damit ist der Rhythmus für seine weitere Karriere gesetzt, und für diesen Film, der einer Treibjagd gleicht. Der britische Regisseur Asif Kapadia hat 500 Stunden Material aus Privataufnahmen und Fernseharchiven zu einem beklemmend intimen Einblick zusammengesetzt. Als Zuschauer hat man das Gefühl, live beim Koksen dabei zu sein, bei der Unterwerfung unter die Camorra, bei der Geburt seines unehelichen Sohnes, bei der Zerstörung seines Körpers mit Spritzen - und die große Kunst Kapadias ist, dass er Maradona dabei trotzdem nicht vorführt.

Am liebsten möchte man den Stadtheiligen von Neapel und Weltmeister von 1986 am Ende in den Arm nehmen und ihm zuflüstern: Kein Mensch hat es verdient, wie ein Gott behandelt zu werden.

Asif Kapadia ist ein Experte für gestürzte Ikonen. Er hat 2011 dem brasilianischen Formel-1-Fahrer Ayrton Senna eine biografische Dokumentation gewidmet und 2015 der britischen Soul-Sängerin Amy Winehouse. Sein Maradona-Film von 2019 ist gewissermaßen der Abschluss einer Helden-Trilogie. Im Gegensatz zu Senna und Winehouse hat Diego Maradona den Wahnwitz seiner Karriere immerhin überlebt. Auch deshalb kann dieser Film seine Vorgänger noch einmal überstrahlen, denn der Protagonist ist selbst beteiligt - mit seiner zittrigen Erzählerstimme im Hintergrund.

Von Beginn an begleiten Maradona zwei Kameramänner, die alles dokumentieren

Die Kamera fährt auf dem Beifahrersitz mit, als Maradonas Autokonvoi 1984 durch Neapel rast, während sie im vollgepackten Stadion die Ankunft des Messias erwarten. Der Angebetete aber berichtet rückblickend aus dem Off, er sei vollkommen pleite in Neapel angekommen, nach zwei katastrophalen Jahren in Barcelona. "Kein anderer Klub wollte mich haben. Ich verlangte ein Haus und bekam eine Wohnung. Ich verlangte einen Ferrari und bekam einen Fiat."

Kapadia konnte sich bei seiner Collage aus einem Schatz von bislang unveröffentlichten Bildern bedienen, die er vor allem Maradonas erstem Spielerberater Jorge Cyterszpiler zu verdanken hatte. Der hatte bereits ganz zu Beginn der Karriere des Wunderkindes aus einem Armenviertel von Buenos Aires zwei Kameramänner verpflichtet, um alles zu dokumentieren, seine wichtigen Dribblings, nahezu jede Affäre, die Kabinenpartys, die Tränen, den ersten Anruf bei Mama nach dem WM-Finale in Mexiko: "Und jetzt ruh' dich ein bisschen aus, mein Junge." Von wegen.

Maradonas Jugendfreund Cyterszpiler hat den fertigen Film übrigens nie gesehen, er stürzte sich 2017 aus dem siebten Stock eines Hotels in Buenos Aires. "Auf dem Platz wird das Leben unwichtig", sagt Diego Maradona in einer der frühen Aufnahmen. Spätestens nach diesen 130 Filmminuten wünscht man ihm, er hätte den Platz nie verlassen müssen.

Dies ist ein Standardwerk über den Preis des Ruhms. Lohnt es sich, der Größte zu sein? Wer in die Abgründe dieser Augen geblickt hat, als Maradona Ende 1990 wie ein Halbtoter auf einer Weihnachtsfeier des SSC Neapel saß, gefangen in der Hülle seines eigenen Mythos, der ahnt: Es lohnt sich nicht.

Diego Maradona, 2019, Regie Asif Kapadia

Bereits erschienene Rezensionen:

Platz 22: "Free Solo"

Platz 21: "Rush"

Platz 20: "Die nackte Kanone"

Platz 19: "Slap Shot"

Platz 18: "Foxcatcher"

Platz 17: "The Wrestler"

Platz 16: "Nowitzki. Der perfekte Wurf"

Platz 15: "Le Grand Bleu"

Platz 14: "White Men Can't Jump"

Platz 13: "I, Tonya"

Platz 12: "Battle of the Sexes"

Platz 11: "Jerry Maguire"

Platz 10: "Rocky III"

Platz 9: "The Rider"

Platz 8: "Moneyball"

Platz 7: "Million Dollar Baby"

Platz 6: "Senna"

Platz 5: "Bull Durham"

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