SZ-Gespräch mit Ex-Radprofi Rolf Aldag:"Der Sport ist nicht das wahre Leben"

In einem ausführlichen Interview mit der Süddeutschen Zeitung spricht der ehemalige Radprofi Rolf Aldag über seinen Rückzug aus dem Sport, immer wiederkehrende Rückschläge im Antidoping-Kampf, die Moral des Verbandes UCI und die Verwicklungen des früheren Gerolsteiner-Teamchefs Hans-Michael Holczer.

Andreas Burkert

SZ: Herr Aldag, kann man Sie, bezogen auf den Radsport, als Aussteiger bezeichnen?

Tour de France - Ruhetag Aldag

Ausgestiegen: Rolf Aldag, hier im Jahr 2004 bei der Tour de France, die er zehnmal bestritt.

(Foto: dpa/dpaweb)

Rolf Aldag: Vielleicht eher als Auszeitler, als Luftholer. Ich werde sicher Verbindungen in den Radsport behalten, nicht nur über meine Kontakte zu Herstellern. Sondern weil ich einfach das Interesse am sportlichen Weg unserer Jungs behalte. Vor allem geht es da natürlich um Tony Martin, von dem ich schon denke, dass er ein guter, feiner Kerl ist.

SZ: Sie hätten mit ihm zu Quick Step nach Belgien gehen können.

Aldag: Ja, aber das ist für mich nur noch als externer Berater für die Technik denkbar, weil Tony das gerne möchte. Aber eine Position im Team-Management oder als Sportlicher Leiter schließe ich aus.

SZ: Quick Step mit seinem Patron Patrick Lefévère, einschlägigen Ärzten und diversen Doping-Affären besitzt einen äußerst zweifelhaften Ruf.

Aldag: Ich weiß. Aber ich glaube schon nach den Gesprächen, dass das Team bereit ist, sich zu verändern und zu modernisieren. Die bisherigen Ärzte sind zwar noch da, aber ich gehe davon aus, dass unsere Highroad-Ärzte mitgehen und dort Verantwortung übernehmen.

SZ:Wie passt die Verpflichtung des früheren Lance-Armstrong-Helfers Levi Leipheimer, der auch in US-Untersuchungen zu Armstrong auftaucht, zu angeblichen Modernisierungsplänen?

Aldag: Tja, gute Frage. Man muss sicher alles beobachten und hinterfragen, das ist klar. Blindes Vertrauen darf es gegenüber Sportlern, Teams und Funktionären nicht geben.

SZ: Sie wollten nicht zu Quick Step wechseln und haben auch andere Offerten nicht angenommen. Wieso?

Aldag: Es gibt im Radsport Dinge, die mir extrem missfallen. Und ich habe kein Interesse, in einem Szenario zu arbeiten, das mir missfällt und sich nicht ändert.

SZ:Sie waren Ende 2006 bei T-Mobile und später bei Highroad gemeinsam mit Teamchef Bob Stapleton auch für etwas mehr Glaubwürdigkeit angetreten. Ist Ihr Rückzug auch eine Kapitulation?

AldagHätte Highroad einen neuen Sponsor gefunden, wäre ich dabei geblieben. Aber Kompromisse bei einem anderen Team möchte ich nicht mehr eingehen. Wir haben damals versucht, bei T-Mobile auszumisten, das war viel Arbeit. Aber mit Bob im Hintergrund haben wir halt geglaubt, wir könnten das schaffen. Das hat mich überhaupt motiviert, dabei zu bleiben.

SZ: Nun sind Sie beide weg. Was bleibt zurück?

Aldag: Das strukturelle Problem ist geblieben. Es läuft alles viel zu langsam in eine bessere Richtung.

SZ: Mit Strukturen meinen Sie den Weltverband UCI?

Aldag: Ja, du bist gefangen in dieser speziellen Umgebung, in diesem Drüber-hinweg-Bestimmen der UCI, ohne einen Ansatz von Demokratie. Die Mannschaften denken ja zum Teil sogar fortschrittlicher als die Regierung des Sports. Der Blutpass als Beispiel - ob er nun perfekt ist oder nicht - wurde von den Teams gepusht. Wenn die UCI da immer etwas anderes erzählt, erzählt sie Unsinn. Es bräuchte bei der UCI Veränderungen. Aber dazu ist keiner dort bereit.

SZ:Was konkret missfällt Ihnen am System UCI?

Aldag: Dass sich insgesamt nicht alles seriöser entwickelt, dass Verfahren und der Kampf gegen Doping nicht konsequenter angegangen werden. Man braucht sich doch nur anschauen, wie der Fall Alberto Contador (spanischer Toursieger unter Dopingverdacht) gehandhabt wurde. Das ist ein totales Desaster! Alle Leute, die bei der UCI persönliche Interessen haben, sind in die Entscheidung involviert, das kann nicht sein und ist nicht glaubwürdig. Aber es ist in der UCI keiner dazu bereit, etwas von der Entscheidungsgewalt abzugeben.

SZ: Das ist ein Problem des Sports insgesamt . . .

Aldag: . . . und ich frage mich inzwischen: Wie realistisch ist es denn zu glauben, dass der Sport überhaupt ethisch sauber sein kann - wenn Olympische Spiele verschachert werden oder die Fußball-WM? Wenn dort viele korrupt sind und einfach machen, was sie wollen? Man braucht doch nur die Karriere-Leitern anschauen: Ein Hein Verbruggen (früherer UCI-Präsident, d. Red.) ist im IOC und erwartet von Pat McQuaid, seinem Nachfolger in der UCI, natürlich 100-prozentige Unterstützung. Sie schützen sich gegenseitig, und auf diese Leitern kommst du nicht dazwischen.

SZ: Unter Verbruggen hat die UCI insgesamt 125 000 Dollar an Spenden von Lance Armstrong angenommen, angeblich ein Deal zu einer positiven Dopingprobe - was beide allerdings bestreiten.

Aldag: Das wirklich Frustrierende ist doch, dass nichts passiert, dass es überhaupt keine Konsequenzen gibt. Im normalen Leben würdest du sagen: So eine Affäre überlebt keiner. Aber der Sport ist wohl nicht das wahre Leben. Du kannst dich als McQuaid doch nicht hinstellen und sagen, sie hätten nie Spenden von Sportlern erhalten - um ein paar Tage später zu sagen: "Ach, es waren ja nur 100 000 Dollar einmalig und dann noch mal 25 000." Da müsste es eigentlich heißen: "Da hat McQuaid nicht die Wahrheit gesagt, und das in der Position, deshalb bist du jetzt mal weg!" Er hat ja auch erst gesagt, es gebe keinen Fall Contador - jetzt beschäftigen wir uns schon zwei Jahre mit ihm. Es gab noch genug andere Verfahren, wo die UCI Zeichen hätten setzen können. Solche Dinge machen McQuaid extrem unglaubwürdig.

SZ: Auch die Doping-Anschuldigungen gegen Armstrongs langjährigen Teamchef Johan Bruyneel lösten bei der UCI nicht sehr viel aus. Vielmehr kommt er nun diesen Juli mit dem neuen Fusionsteam aus seiner Mannschaft RadioShack und Leopard um die Brüder Schleck als großer Siegfavorit zur Tour - oder es gewinnt eben Contador.

Aldag: Na, Glückwunsch! Aber mal losgelöst von der Frage, wie tief Bruyneel in die Sache verwickelt ist: Allein, dass sie diesen Zusammenschluss der Teams machen dürfen, ist schon unglaublich. Da siegt wieder nur das wirtschaftliche Interesse, nach dem Motto: Wir lassen die, dann werden die uns in Ruhe lassen! Es riecht da nach Kumpanei, denn laut Reglement geht es gar nicht, ein Team wie jetzt Bruyneels mit drei Sponsoren-Namen zu benennen. Schon bei so einer einfachen Sache verstoßen sie bei der UCI gegen ihr eigenes Reglement! Wie nennen sie sich jetzt? Leopard-Trek-Nissan-RadioShack? Sehr witzig.

SZ: Wieso hinterfragt das niemand?

Aldag: Traut sich wohl keiner. Leopard hatte ja eigentlich für vier Jahre die Lizenz beantragt, dafür wurden Bankgarantien hinterlegt. Und dann hatten sie bei der Präsentation den UCI-Präsidenten McQuaid da, der sich ja manchmal wie ein cholerischer King of the Castle aufführt, und der stellt sich da hin: "Wie cool ist das denn, das ist das Allerbeste, diese Mannschaft wird in den nächsten Jahren den Sport bestimmen!" Und jetzt heißt es: "Alles nur Spaß, und ja, du hattest Vertrag, aber geh' mal woanders hin!" In jedem Bereich wird alles gedehnt, so lange es zum eigenen Vorteil ist. Ob's ethisch vertretbar ist - egal.

SZ: Es gab 1998 den Festina-Skandal, 2006 wurde nichts aus dem Fuentes-Skandal gelernt. Wieso haben Sie es überhaupt so lange im Radsport ausgehalten?

Aldag: Weil der Sport natürlich schon faszinierend ist, wenn es eine realistische Chance gibt, den Kampf um Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Im Moment habe ich da meine Zweifel. Und ich muss jetzt erkennen, dass ich bei meinem Antritt wohl eher naiv war. Im Nachhinein hat es einfach zu viele Dinge gegeben, die ich den Leuten nicht mehr verzeihen kann. Ich werde zum Beispiel im Leben nicht vergessen, dass Hein Verbruggen während des Festina-Skandals bei der Tour '98 in den Urlaub nach Bali geflogen ist! Schon damals gab es eine wirklich gute Chance aufzuräumen. Wir haben darauf gehofft und gewartet. Und er fährt in den Urlaub! Kein Mensch fängt doch mit 13 mit Radfahren an und hat das Ziel, mit 23 an der Nadel zu hängen. Und ich glaube auch nicht, dass alle Fechter gute Menschen mit gutem Charakter sind - und alle Radsportler drogensüchtig, Diebe sind, Lügner und schlechte Menschen. Deswegen ist es einfach ernüchternd, wenn so eine Chance vertan wird, 1998 und dann wieder 2006.

SZ: 2007, nach Ihrem Epo-Geständnis, mussten auch Sie mit dem Vorwurf leben, eine Chance vertan zu haben - weil Sie nicht alles ausgesagt hätten.

Aldag: Zum einen bin ich da der Meinung, dass - bei aller Liebe - der letzte Teil meiner Geschichte nicht in die Medien gehörte. Denn das schafft nach meiner festen Überzeugung Nachahmer. Die Pressekonferenz diente dem Kernthema: Ja, ich habe es getan, es war ein Fehler. Zum anderen war ich zum Beispiel neun Stunden beim BKA - da hätte ich nicht hingemusst, und auch hier müsste ich nicht reden. Ich habe auch nicht nur darüber geredet, was verjährt war, ich habe Dinge über 2002 erzählt. Ja, ich habe zur jetzigen Lage des Radsports in Deutschland beigetragen. Aber wenn mir jemand nicht glaubt, dass ich alles Relevante gesagt habe, muss ich damit leben.

SZ: Wer außer dem BKA hat sich für Ihr Hintergrundwissen interessiert?

Aldag: Niemand, und das war ganz interessant. Ich hatte ja mal ein Meeting mit Thomas Bach (Präsident Deutscher Olympischer Sportbund; d.Red.) und Michael Vesper (sein Generalsekretär) und habe da alles Mögliche angeboten. Es gab dann ein Gespräch mit ihrem Sekretariat, damit meine Kontaktdaten richtig aufgenommen werden - seitdem habe ich nie wieder von denen gehört.

SZ: Bei der Expertenkommission zum Doping an der Freiburger Uniklinik sind sie noch gewesen.

Aldag: Das ist wieder die Kehrseite. Denn das war natürlich alles andere als Aufklärung. Das war nur im Interesse und zum Schutz der Universität. Der Bericht der Uniklinik Freiburg war das Enttäuschendste, was ich jemals gelesen habe: Wir haben da zwei böse Ärzte und ein paar böse Sportler - und ansonsten hat keiner an der Uni davon gewusst? Und durch die Tür kamen Radsportler, die wurden gedopt, und die anderen Sportler, die da bei denen auf Bildern an der Wand zu sehen sind, die sind sauber, da ist nichts zu untersuchen? Sorry, das ist total unrealistisch.

"Das Loslassen fällt jetzt schon sehr schwer"

SZ: Im Peloton wurden Sie kritisch gesehen, weil Sie überhaupt geredet haben. Viele Teams wären demnach zuletzt für Sie nicht infrage gekommen, wenn Sie es mit Ethik ernst meinen.

Aldag: Ja, und diesen Tunnelblick würde ich mir selber nicht mehr zutrauen. Es gab ja Gespräche. Aber viele Manager haben nicht wirklich verstanden, wovon ich rede. Die leben in ihrer eigenen kleinen Welt. So ist der Radsport in allen Dingen aufgestellt, ob es nun um Sekundäres geht wie Funkverbot oder etwas wirklich Wichtiges wie Test-Ergebnis-Handling, die Kontrollen oder die Lizenzkommission. Es war immer so: Du gehst durch die 18 Topteams - und dann schrumpft es mit dem Engagement. Dann heißt es: "Hey, wir brauchen erst mal unsere Lizenz und Sponsoren, wenn wir vorher die UCI anpinkeln, dann . . ."

SZ: Die UCI soll selbst Geldsorgen haben. Könnte man sie über diesen Hebel nicht lenken?

Aldag: Hat sie vermutlich. Trotzdem habe ich immer den Eindruck, dass sie selbst den Niedergang des Radsports hinnehmen würden, sofern sie nur das Sagen behalten. Die UCI ist nicht Willens zu sagen, wir beteiligen andere Leute an den Entscheidungen. Sie will kommerziellen Erfolg. Da gehen sie also lieber nach China mit einem Rennen im Herbst. Da verdienen sie Geld und nötigen uns, teilnehmen zu müssen. "Kommste nicht? - Kannste deinem Sponsor schon mal sagen, dass es schwer wird mit dem Tour-Start!" So dreht es sich im Kreis. Aber ich kann mir vorstellen, dass es mal eine neue Serie ohne die UCI geben wird. Es gibt solche Pläne. Mit einer neuen Föderation, an der alle Teams beteiligt sind, die aber Dinge wie das Doping-Testing und das Ergebnis-Management an unabhängige Stellen abgeben.

SZ:Wie die französische Anti-Doping-Agentur, die 2008 für die Kontrollen bei der Tour federführend zuständig war - als reihenweise Cera-Doper aufflogen.

Aldag: Ja, komisch, ne?

SZ: Nur, wer würde da überhaupt mitmachen bei einer neuen Serie?

Aldag: Ich glaube schon, dass es da langfristig eine Möglichkeit gäbe. Eben über die Finanzen, denn an den Einnahmen sind die Mannschaften ja bisher nicht wirklich beteiligt. Wir waren zum Beispiel mit Highroad bei der Tour 2011 Hauptdarsteller, gewannen sechs Etappen. Wir haben 55 000 Euro Startgeld für drei Wochen gekriegt wie alle Teams, und die Siegprämien - Ende im Gelände. Die A.S.O. (Tour-Veranstalter; d.Red.) kriegt vom europäischen Fernsehen rund 20 Millionen Euro. Das gibt es doch in keinem Entertainment-Betrieb, dass ein Kevin Costner dasselbe verdient wie der Komparse, der hinten in der Kulisse angeschossen tot umfällt.

SZ: Ihr Landsmann Hans-Michael Holczer ist nach seiner Zwangspause infolge der Dopingskandale bei seinem früheren Gerolsteiner-Team wieder gut im Geschäft, allerdings beim suspekten russischen Katjuscha-Team. Wie passt das zu seinen moralischen Ansprüchen?

Aldag: Wenn er moralisch hohe Ansprüche hat, muss man auch sagen: An denen ist er schon früher massiv in der täglichen Umsetzung gescheitert. Er hat immer davon geredet, er sei sauber und wolle sauber fahren lassen - und dann läufst du angeblich blind durch die Welt und hast mit Stefan Schumacher, Bernhard Kohl und Davide Rebellin drei riesige Dopingfälle in deinen Reihen? Dann zu sagen, ich habe nichts damit zu tun, das funktioniert natürlich nicht. Mit seinen moralischen Ansprüchen hätte er zum Beispiel einen Schumacher 2007 kaltstellen können wegen der Geschichten rund um die WM in Stuttgart - wenn er gewollt hätte. Und danach hatte der einen Unfall mit Alkohol am Steuer und Restspuren von Amphetaminen - wenn du darauf einen Sportler nicht kündigst, willst du es auch nicht. Deshalb bin ich über Holczers Selbstvermarktungstalent sehr begeistert, weitaus mehr als über seine moralischen Ansprüche.

SZ: Holczer hat übrigens auch Ihren Kumpel Erik Zabel als Sprintberater und Ihren bisherigen Highroad-Trainer Sebastian Weber dazugeholt.

Aldag (lacht): Ja, nun. Ich glaube, dass Ete über die Partnerschaft mit seiner Radfirma, die Katjuscha sponsert, kaum eine andere Wahl hatte. Und Weber ist zu anderen Voraussetzungen hingegangen: Da gab es noch keinen Holczer. Unter Umständen sind da jetzt ein paar Leute unglücklich.

SZ: Wenn man Ihnen so zuhört: Was raten Sie dem Radsport-Zuschauer beim Konsum an der Strecke oder im TV?

Aldag: Jede Leistung als so gegeben hinzunehmen, das muss keiner. Aber das mache ich auch in anderen Sportarten nicht mehr. Die Einschätzung muss jeder für sich vornehmen. Aber eine gewisse Distanz kann nicht schaden.

SZ: Könnten sich trotz allen Frusts eine Rückkehr vorstellen?

Aldag: Da müsste sich noch mehr ändern an den Strukturen. Aber es bleibt natürlich für mich faszinierend, wie sich die Fahrer auf dem Weg nach Alpe d'Huez bekämpfen; ich verstehe, warum dort eine Million Menschen stehen. Oder wenn ich bei der WM hinter Tony Martin im Auto fahre und ans Tacho klopfe, weil du denkst, die Nadel ist hängengeblieben. Aber er fährt halt knapp 60 mit seinem Rad, und du weißt, was wir für einen Aufwand betrieben haben, wie du ihn dreimal in den Formel-1-Windkanal nach England fliegen lässt. Deshalb fällt das Loslassen jetzt schon sehr schwer.

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