Im Sommer 2019 war Austria Wien an der Verpflichtung des syrischen Nationaltorwarts Ibrahim Alma interessiert. Auf der Facebook-Seite des Klubs gingen mehr als 6000 Kommentare ein. Viele Syrer bezeichneten Alma als Unterstützer des Diktators Baschar al-Assad. Und sie erinnerten an einen Vorfall 2018: Bei einem Trainingslager des syrischen Nationalteams in Österreich hatten syrische Oppositionelle Banner gegen al-Assad gezeigt. Der Torhüter Alma reagierte wütend und forderte die Sicherheitsordner auf, die Demonstranten aus dem Stadion zu verweisen.
Austria Wien verzichtete auf Alma. Und auch zwei Klubs aus Saudi-Arabien sollen ihr Interesse an ihm zurückgezogen haben, weil er sich mit Vertretern des syrischen Regimes gezeigt hatte. Anekdoten wie diese werden nun, nach dem Sturz von Baschar al-Assad, in Syrien intensiv diskutiert. „Einige Fans fordern den Ausschluss von Alma aus dem Nationalteam“, sagt der syrischstämmige Fußballexperte Nadim Rai, der seit 2015 in Deutschland lebt: „Auch im Sport hat die Aufarbeitung begonnen. Alle fragen sich: Wer hat Blut an den Händen? Und wer war Mitläufer?“
Seit 2023 spielt Ibrahim Alma in der syrischen Hafenstadt Latakia für Tishreen. Der Verein gewann während des Bürgerkrieges dreimal die Meisterschaft. Viele Fans von Tishreen sind Alawiten, gehören derselben Minderheit an wie die langjährige Herrscherfamilie al-Assad. Lange war Fawaz al-Assad der Ehrenpräsident von Tishreen. Der Cousin des Diktators fuhr gern mit einem Cabrio ins Stadion ein, begleitet von Soldaten und Gewehrschüssen.
Von einer Nähe zur alten syrischen Elite ist nun bei Tishreen nichts mehr zu sehen. Nach dem Fall von al-Assad veröffentlichte der Klub Fotos von zwei ehemaligen Spielern, die in Schutzwesten hinter Meisterschalen posieren. Beide hatten den Fußball aufgegeben, um mit den Rebellen zu kämpfen. „Auch andere Vereine feiern die Rebellen“, sagt Nadim Rai, der einst in Latakia eine Ultragruppe mitbegründet hat und Medienkoordinator des Vereins Hutteen war. „Die Strukturen werden sich jetzt grundlegend ändern. Aber es wird Jahre dauern, um die Instrumentalisierung im Fußball aufzuarbeiten.“
Die einen schwenkten die Fahnen der syrischen Rebellen, die anderen standen hinter Baschar al-Assad
Über viele Jahre war die Nationalmannschaft ein Sinnbild für die Spaltung der syrischen Gesellschaft. Besonders deutlich wurde das bei der Westasienmeisterschaft 2012, ein Jahr nach Beginn des Bürgerkrieges. Im Finale in Kuwait besiegte Syrien den Irak 1:0. Im Stadion standen sich zwei feindselige Fankurven derselben Mannschaft gegenüber. Die einen schwenkten die Fahnen der syrischen Rebellen, die anderen standen hinter Baschar al-Assad.
Frauenrechte in Saudi-Arabien:„Gesellschaftliche Öffnung und wachsende Repression gehen Hand in Hand“
Saudi-Arabien baut die Unterhaltungsindustrie zum Wirtschaftszweig auf, davon profitieren auch Frauen: Sie dürfen Auto fahren und Sport treiben. Doch rechtlich sind sie weiter schlechtergestellt als Männer.
Nach dem Finale zog der syrische Spieler Omar al-Somah das rote Nationaltrikot aus und griff sich eine Fahne der Rebellen. Er spielte fünf Jahre nicht mehr für Syrien, kehrte aber 2017 für die entscheidenden Qualifikationsspiele für die WM 2018 in die Nationalmannschaft zurück. Al-Somah, der zu jener Zeit in Saudi-Arabien aktiv war, reiste sogar nach Damaskus zu einem Empfang von al-Assad.
Wurde Omar al-Somah von der Regierung unter Druck gesetzt? Waren seine Familie und Freunde in Gefahr? „Al-Somah soll seinen Einfluss genutzt haben, um einen ehemaligen Mitspieler aus dem Gefängnis freizubekommen“, erläutert Nadim Rai, der in Deutschland Vorträge über den Fußball im Nahen Osten hält. Nun, nach dem Fall des Regimes, schrieb al-Somah in sozialen Medien: „Es lebe das freie Syrien.“
Lange war auch im Fußball das Gedenken an die Kriegsopfer verboten. Die Lage ist unklar, doch nach Schätzungen mehrerer Exilanten sollen mehr als 40 Spieler aus den ersten beiden syrischen Ligen während des Krieges getötet worden sein. Dem ehemaligen Nationalspieler Jihad Qassab wurde die Konstruktion von Autobomben vorgeworfen – was er bestritt. Qassab ist 2016 nach Folter im Militärgefängnis Saidnaya gestorben.
Geflüchtete Spieler, Funktionäre und Sportjournalisten knüpften insbesondere in der Türkei ein Exilnetzwerk
Biografien wie diese werden nun in sozialen Medien diskutiert, ohne Angst vor Verfolgung. Fans erinnern etwa an Abdul Baset al-Sarout. Als erster bekannter Fußballer stellte er sich schon 2011 gegen al-Assad und trat der „Freien Syrischen Armee“ bei. Al-Sarout, der al-Qaida nahegestanden haben soll, kam 2019 bei Gefechten ums Leben.
Geflüchtete Spieler, Funktionäre und Sportjournalisten knüpften insbesondere in der Türkei ein Exilnetzwerk. Von dort trugen sie Informationen aus Syrien zusammen: über die Teilnahmepflicht von Sportlern an politischer Propaganda oder über die Verhaftung von Fußballern. Ein Beispiel: Der langjährige syrische Nationaltorwart Mosab Balhous wurde 2011 von Regierungstruppen verhaftet, weil er Rebellen Zuflucht geboten haben soll. Fast ein Jahr fehlte von ihm jede Spur, viele Fans hielten ihn für tot. 2012 kehrte er überraschend ins Nationalteam zurück.
Trotz dieser politischen Vereinnahmung ließ der Fußballweltverband Fifa den syrischen Fußballverband gewähren. Während des Krieges ließ al-Assad den Ligabetrieb in den vermeintlich sicheren Städten Damaskus und Latakia fortsetzen, um etwas Normalität vorzutäuschen. Gleichzeitig wurden Stadien in Aleppo und Homs als Militärbasen, Gefängnisse und Flüchtlingslager genutzt. Aus dem Abbasiden-Stadion in Damaskus wurden Raketen abgefeuert.
Baschar al-Assad zeigte sich selten auf den Ehrentribünen, trotzdem stützte der Fußball seine Agenda. Erst vor einem Monat trat das syrische Nationalteam in Wolgograd in einem Freundschaftsspiel gegen Russland an, in jenem Land, wo al-Assad inzwischen von seinem Verbündeten Wladimir Putin Asyl erhielt. Inzwischen aber wurde die Spitze der obersten Sportbehörde Syriens mit einem Funktionär aus der einstigen Rebellenhochburg Idlib besetzt.
Der Verband veröffentlichte zuletzt die syrische Flagge des alten Regimes, Fans empörten sich darüber
„Der Fußball kann in Syrien zu einem Symbol der Einheit werden“, glaubt Nadim Rai, „aber dafür muss der Verband Vertrauen zurückgewinnen.“ Es ist wahrscheinlich, dass die Stadien, die der Familie al-Assad gewidmet waren, jetzt neue Namen erhalten. Es ist sogar möglich, dass staatseigene Vereine aufgelöst werden: etwa der Rekordmeister aus Damaskus Al Jaish, übersetzt: die Armee. Und der Stadtrivale Al Shorta, die Polizei.
Die syrische Nationalmannschaft hat ihr bisher letztes Spiel vor heimischem Publikum 2010 in Damaskus gegen den Irak bestritten. Seither muss sie für Heimspiele ins Exil reisen, nach Katar oder in die Vereinigten Arabischen Emirate. Gerade hat der asiatische Fußballverband AFC die Spieltermine fürs kommende Frühjahr bekanntgegeben. Der Verband veröffentlichte dazu die syrische Flagge des alten Regimes. Fans empörten sich darüber, denn inzwischen hat auch der syrische Verband ein neues Logo. Nicht mehr mit zwei, sondern mit drei Sternen, dem Erkennungszeichen der Rebellen.
Nadim Rai, der diese Entwicklung dokumentiert, hat zuletzt wenig geschlafen. Er hat mit Freunden in Syrien telefoniert, darunter Fußballfans, die jubelnd durch die Straßen zogen, mit Fahnen, Gesängen, Feuerwerkskörpern. Rai hat auch stundenlang in sozialen Medien recherchiert. Dabei ist er auf ein Foto von Salim Khadra gestoßen, einem seiner Lieblingsspieler aus Jugendzeiten. Khadra war in die Türkei geflohen und erwägt nun – wie viele andere Sportler – eine Rückkehr nach Syrien. Um ihr Land wieder aufzubauen. Und auch ihren Fußball.