SV Werder Bremen:Zermürbt ins neue Zeitalter

Marvin Ducksch (Hannover 96), re., erzielt das Tor zum 1:1 24.07.2021, Fussball GER, Saison 2021 2022, 2. Bundesliga, 1.

Reingelupft: Marvin Ducksch (rechts) trifft für Hannover 96 zum 1:1-Augsleich gegen Werder Bremen

(Foto: Maik Hölter/imago)

Prime-Time im Unterhaus: Der Traditionsklub enttäuscht bei seinem ersten Zweitliga-Spiel seit mehr als 40 Jahren. Nach dem 1:1 gegen Hannover 96 gibt es Pfiffe im Weserstadion.

Von Thomas Hürner, Bremen

Wie das so ist, wenn das Leben eine Klasse tiefer weitergeht? Vielleicht kann da einmal mehr der italienische Schriftsteller Tomasi di Lampedusa Auskunft geben. Sein bekanntes Bonmot passt schließlich fast immer, sogar auf den bekanntesten Fußballklub der Hansestadt Bremen: Im Grunde hat sich alles geändert - und doch ist vieles so geblieben, wie es vorher war.

Am Samstagabend startete der SV Werder in seine erste Zweitliga-Saison seit mehr als 40 Jahren, zur neuen Prime-Time des Unterhauses: 20.30 Uhr, Nordderby gegen Hannover 96, noch so ein gesunkenes Schlachtschiff aus alten Erstliga-Tagen. Für die neue Saison haben sie in Bremen auch einen neuen Einlaufsong gewählt, "Right Here, Right Now" von Fatboy Slim, was auch als musikalische Erinnerung daran durchgehen kann, dass jetzt ein anderes Zeitalter angebrochen ist. Das Wort übernahm aber zunächst der Stadionsprecher, der die 14 000 Zuschauer im Weserstadion noch mal daran erinnerte, dass sich Werder in der "größten Krise" seiner jüngeren Geschichte befinde; es folgten ein langer Appell an den Zusammenhalt und die Bitte, den Neuen im Team mit Geduld und Vertrauen zu begegnen.

Ein Fußballspiel später hatte Werder nur ein 1:1 erzielt, nach einer eher biederen Darbietung, die unter den Zuschauern das Gegenteil von Aufbruchstimmung hinterließ. Mit dem Schlusspfiff stellte sich ein unüberhörbares Pfeifkonzert ein, schon zur Halbzeit waren vereinzelte Unmutsbekundungen zu vernehmen gewesen.

"Jeder Fan will auch gewinnen", sagte Werder-Coach Markus Anfang

"Für mich ist das kein Drama", sagte Werder-Trainer Markus Anfang, der einer der Neuen ist, für die zuvor über die Lautsprecher um Geduld geworben worden war. Anfang, vormals Coach in Kiel, Köln und Darmstadt, äußerte sein Verständnis für die Pfiffe, schließlich wolle "jeder Fan auch gewinnen". Letztlich müsse aber jeder die Realität anerkennen, fuhr Anfang fort, und die Realität sei nun mal nicht von der Hand zu weisen: "Das ist zweite Liga."

Dabei hatte das Spiel mit einem Donnerschwall von den Rängen begonnen, die berüchtigte Ostkurve blies zur Attacke, der Rest des Publikums war spürbar euphorisiert. Es war aber nicht verwunderlich, dass sich die Atmosphäre auch jederzeit ins Gegenteil kehren konnte, die Anhänger des SV Werder haben schließlich aufreibende eineinhalb Jahre hinter sich. Vor dem Fernseher hatten sie zugesehen, wie ihr Team 2020 dem Abstieg gerade noch von der Schippe sprang, nach zwei Relegationsdramen gegen Heidenheim. Und in der Spielzeit darauf, in der eigentlich der Anschluss an solide Tabellenregionen gelingen sollte, stand am Ende die tränenreiche Zwangsversetzung, weil in den letzten zehn Saisonspielen gerade mal ein mickriger Punkt auf der Habenseite stand.

Diese Enttäuschungen haben auch bei den Spielern Spuren hinterlassen, das Bremer Team ist nahezu dasselbe geblieben - zumindest bis auf Weiteres. "Man merkt, dass die Jungs aus einer schweren Saison kommen", sagte Anfang, der zuletzt sehr darum bemüht war, die Erwartungen einzudämmen. "Wiederaufbau vor Wiederaufstieg" lautet sein Leitmotiv, allerdings kulminiert in Bremen momentan alles in einer Frage: Wann darf Anfang die Trümmer der Vergangenheit beiseite räumen?

Selbst der neue Kapitän Ömer Toprak könnte den Verein noch verlassen

Im Spiel gegen Hannover setzte der Coach - wie schon in der gesamten Saisonvorbereitung - auf sein bevorzugtes 4-3-3-System, für das es Flügelangreifer braucht, die im Kader derzeit nicht vorhanden sind. Bis zum Transferschluss am 31. August sollen noch Fußballer mit Außenbahnexpertise hinzustoßen, bis dahin könnte aber auch jeder Startelfspieler vom Samstag die finanziell angeschlagenen Bremer noch verlassen. Anfang hat deshalb gerade einen der schwierigsten Trainerjobs der Republik, er soll ein Team bauen, ohne überhaupt zu wissen, welche Bausteine ihm in Kürze zur Verfügung stehen werden. "Wir brauchen noch Zeit", sagte Verteidiger Ömer Toprak, der nach einem Eckball in der 49. Minute per Kopf die Bremer Führung erzielte und immer wieder punktgenaue Diagonalpässe übers Spielfeld streute, fast wie in seinen besten Zeiten. Doch selbst bei Toprak, der erst in der Vorwoche von der Mannschaft zum neuen Kapitän gewählt wurde, ist ein Weggang von Werder nicht komplett ausgeschlossen.

Bei so viel Unsicherheit ist es fast die logische Konsequenz, dass sich ein Team auch mal ein Gegentor fängt, das laut Anfang eigentlich "recht einfach zu verteidigen" gewesen wäre. Nach einem feinen Steilpass war Werders Defensive überrumpelt, 96-Stürmer Marvin Ducksch traf frei vor Michael Zetterer (55.), der den verletzten und offenbar abwanderungswilligen Jiri Pavlenka im Bremer Tor ersetzte - und der von seinen Kollegen viel Lob erhielt, weil er in der Folge zumindest das Unentschieden gegen die gut abgemischte 96-Offensive festhalten konnte. Oder, wie es Kapitän Toprak formulierte: "Wir können von Glück reden, dass Hannover uns am Ende nicht gekillt hat."

Als sich die Tribünen langsam geleert hatten und die Pfiffe abgeebbt waren, griff noch mal Stadionsprecher Arnd Zeigler zum Mikro. "Jetzt nehmen wir das 1:1 mal so hin", rief er ins weite Rund des Weserstadions. Auch er wirkte jetzt ein bisschen zermürbt ob des Zweitliga-Starts, den sich in Bremen alle anders vorgestellt hatten - der alle Beteiligten aber auch nicht ernsthaft überrascht haben dürfte.

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