SV Werder Bremen:"Ich bin leer"

Apathie am Abgrund: Nach dem 1:3 in Mainz droht Bremen im 1900. Bundesligaspiel der Abstieg. Die Hoffnung auf ein neues Wunder ist klein - selbst der kampfbereite Trainer ist niedergeschlagen.

Von Frank Hellmann, Mainz

Marco Bode versuchte es mit dem Mute der Verzweiflung. Der Aufsichtsratschef des SV Werder faltete die Hände wie ein Megafon vor seinem Mund, um das Horrorszenario in der Mainzer Gespensterkulisse mit erhöhter Lautstärke noch abzuwenden: "Weiter, weiter!" brüllte Bode, "wir schaffen das!" Es war ein Irrtum: Am Ende stand eine verdiente 1:3-Niederlage beim nun geretteten FSV Mainz 05. Ein paar rote Schalensitze weiter sackten Präsident Hubertus Hess-Grunewald und Klaus Filbry, der Vorsitzende der Geschäftsführung, in sich zusammen. Sie hatten ihre Hände wie beim Gebet gefaltet, bis auch an ihren Mienen nur noch Apathie am Abgrund abzulesen war: Der 1899 gegründete SV Werder ist in seinem 1899. Bundesligaspiel dem zweiten Abstieg der Klubgeschichte nach 1980 ganz nahe gekommen.

Es kann darüber diskutiert werden, wie groß die prozentuale Chance vor dem letzten Heimspiel gegen den 1. FC Köln noch ist. Zwei Punkte und vier Tore Rückstand auf Fortuna Düsseldorf müssen wettgemacht werden, um sich noch auf den Relegationsplatz zu hangeln. Gegen Werder spricht aber nicht allein die Tatsache, dass das Weserstadion in dieser Saison bisher nur einen einzigen Heimsieg erlebt hat (am 1. September 2019 gegen Augsburg), sondern auch die Leistung an einem Spieltag, an dem es "um alles" ging, wie Trainer Florian Kohfeldt zuvor beteuert hatte.

Wahrscheinlich deshalb wirkte der Trainer nach dem 1:3 so konsterniert wie nie zuvor in seiner jungen Karriere: "Ich kann direkt nach dem Spiel heute keine Zuversicht verbreiten", sagte der 37-Jährige, dem auf der Pressekonferenz die Tränen in den Augen standen. Schon als Torhüter der dritten Werder-Mannschaft war er früher immer ein großer Fan der Grün-Weißen, aus dieser Rolle heraus stieg am Samstag seine Enttäuschung ins Unermessliche.

Kohfeldt begreift seine Coaching Zone nicht erst in Corona-Zeiten als eine Kampfzone, in der er keinen Disput scheut. Wenn sogar ihn die Kampfeslust verlässt, dann wird deutlich, wie nahe die Bremer dem Sturz ins Bodenlose sind. Nur so viel könne er versprechen, so der Trainer: "Es ist nur eine geringe Chance, aber es ist eine Chance. Wir sind es jedem Mitarbeiter und Fan schuldig, alles zu tun, um gegen Köln den Sieg zu holen." Der Strohhalm, an den sich Stadt und Verein noch klammern, wird immer dünner - aber immerhin gibt es noch einen. Kohfeldt gab zwar zu, dass er bis Samstag keine Lösungen mehr finden werde, um all die einfachen Gegentore (alleine 22 nach Standardsituationen ) abzustellen. Aber er wird den Motivationsguru Jörg Löhr und den Sportpsychologen Mathias Kleine-Möllhoff einbinden, um irgendwie den Glauben zurückzubringen.

1. FSV Mainz 05 v SV Werder Bremen - Bundesliga

Am Ende seines Fußballlehrer-Lateins: Werder-Trainer Florian Kohfeldt leidet in Mainz.

(Foto: Getty Images)

Kohfeldt appellierte auch frühzeitig an den Sportgeist der Eisernen von Union Berlin, die am letzten Spieltag Düsseldorf empfangen. Spielt die Fortuna dort unentschieden, bräuchte Bremen gegen Köln einen Sieg mit vier Toren Differenz. Ansonsten könnte die zweite Liga bald zum Stelldichein der Bundesliga-Gründungsmitglieder des Nordens werden, wenn sich hier womöglich ab Herbst Werder, der HSV und Eintracht Braunschweig begegnen.

Kapitän Niklas Moisander, bald 35 und eine Symbolfigur fehlender Bremer Handlungs- und Grundschnelligkeit, hat erstaunlicherweise für ein weiteres Jahr verlängert. Er berichtete von "stiller Stimmung" in der Kabine. Trotzdem beteuerte der Finne tapfer: "Nichts ist verloren." Wären Bremer Fans in Mainz gewesen, hätten sie Moisander und seine Mitspieler vermutlich wegen wiederholter Wehrlosigkeit bei den Gegentoren von Robin Quaison (25.), Jean-Paul Boëtius (30.) und Edimilson Fernandes (85.) wutentbrannt zur Rede gestellt. Und warum weckten die gute Anfangsphase oder das Tor zum 1:2 von Yuya Osako (58.) keine Bremer Lebensgeister?

Volkes Zorn war später nur auf den Stirnadern Willi Lemkes abzulesen, der seine Enttäuschung in TV-Interviews nicht verbergen konnte: "Wir stehen da, wo wir hingehören. Es ist eine katastrophale Saison", wetterte der Ex-Manager, der für bessere Zeiten steht. Lemke rechnete vor, dass man gegen Mainz in der Summe beider Saisonspiele 1:8 verloren habe (Hinspiel: 0:5). Dass die Nullfünfer dank des früheren Werder-Kaderplaners Rouven Schröder mit 17 Millionen Euro weniger Personaletat auskommen (Mainz 38, Bremen 55), wirft ein Schlaglicht auf die Versäumnisse.

Die Beweislast wirkt erdrückend, unabhängig vom Saisonausgang benötigt Bremen einen Neuanfang auf vielen Ebenen. Wie das gelingen soll, wenn keine Dauerkarten verkauft werden können und TV-Einnahmen signifikant zurückgehen, weiß keiner, denn der Standort ist wirtschaftlich ohnehin limitiert. Geschäftsführung und Aufsichtsrat müssten sich intensiv mit der Frage beschäftigen, "wie es zu dieser Situation kommen konnte", verlangt Lemke. Der 73-Jährige will auch die Verantwortung des bislang unantastbaren Kohfeldt hinterfragen: "Das wird einer der Punkte, die wir zu diskutieren haben."

FSV Mainz 05 - SV Werder Bremen

Gerettet: Trainer Achim Beierlorzer hielt Mainz in Liga eins.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Die Verletzungsmisere infolge falscher Trainingssteuerung kostete Fitnesscoach und Physiotherapeut den Job, sie wurde aber nicht dem Cheftrainer angelastet. Dass Kohfeldt in Mainz personell daneben griff und die Klublegende Claudio Pizarro, 41, früher einwechselte als Leihgabe Davie Selke oder den gar nicht eingesetzten Milot Rashica, sprach Bände. Die sportliche Leitung hat wohl zu lange und zu oft zu alten und zu langsamen Spielern vertraut.

Die Personalpolitik verantwortet seit 2016 Sportchef Frank Baumann, der "alles Engagement" im letzten Spiel fordert, "um das kleine Wunder zu schaffen". Der Ehrenspielführer, 44, sollte allerdings wissen, dass sich "Wunder von der Weser" vorrangig im Europacup ereignet haben, der vor dieser Saison das erklärte Bremer Saisonziel war. Baumann hat trotz der Fehlplanung deutlicher als Kohfeldt seine Bereitschaft zum Verbleib im Abstiegsfall angedeutet. Über seine Zukunft muss das Gremium um Marco Bode entscheiden. Besserung nur durch Zwischenrufe von der Tribüne zu beschwören, wird nicht reichen.

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