SV Darmstadt 98:Galgenvögel der Liga

SV Darmstadt 98  - Team Presentation

Gruppenbild mit Haaren: Marco Sailer und seine Teamkollegen

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Darmstadt zieht als Gegenentwurf zum modernen Hochglanzfußball in die Bundesliga ein: Im Stadion wächst das Unkraut.
  • Im Kader finden sich Verstoßene, Rabauken und Arbeitslose.
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Von Philipp Selldorf, Darmstadt

Am Telefon sagt Sascha Franz, er könne zum Gespräch auch gern den Cheftrainer mitbringen, und dann fügt er mit einer Spur von Widerstreben hinzu, dass man vielleicht auch noch den Pressesprecher informieren und womöglich "ein Zeitfenster" einrichten müsse. Offenbar findet Franz derlei Formalitäten überflüssig: "Wir sind doch eigentlich ganz normale Jungs", meint er.

Nichts spricht dagegen, den SV Darmstadt 98 für einen ziemlich normalen deutschen Fußballverein und dessen Trainerduo Dirk Schuster und Sascha Franz für ganz normale Jungs zu halten. Nur eben nicht in jener Welt, in der sich der Klub und seine führenden Angestellten jetzt behaupten sollen - in der Welt des großen und ständig bis in alle Winkel beleuchteten Showgeschäfts Bundesliga also.

Für die Gegnerbeobachtung ihre Väter engagiert

Dirk Schuster war als Profi lang genug dabei, um das beurteilen zu können. Das Drumherum im Fußball habe sich in allen Belangen verändert, seit er vor 24 Jahren als junger Verteidiger zum Karlsruher SC kam, sagt er, und es klingt nicht so, als ob er den Wandel der Umstände unbedingt als gelungenen Fortschritt versteht. Jedenfalls hebt er nicht ohne feierlichen Unterton hervor: "Aber der Fußball selbst, elf gegen elf auf dem grünen Rasen, das ist immer noch das Gleiche wie früher."

Während die Bundesliga eine ständige Vertretung in Singapur eingerichtet hat und zur Expansion auf den Überseemärkten die Vereine nach China, Südafrika und Neuseeland reisen lässt, sieht sie sich im heimischen Betrieb regelmäßig genötigt, Vereine aufzunehmen, die im Kreis der Markenklubs unvermeidlich das Ansehen von Randexistenzen haben. Die SpVgg Unterhaching bekam das bei ihrem Gastspiel zur Jahrhundertwende zu spüren, wenn sie von Leuten, die es besser wissen müssten, wieder mal als "Unterhachingen" angesprochen wurde. Nach Haching kamen Fürth, Braunschweig, Paderborn, und nun sind es sogar zwei auf einmal: Ingolstadt - und vor allem: Darmstadt 98.

Dirk Schuster, 47, und Sascha Franz, 41, haben das Nachmittagstraining abgeschlossen und den Besucher für das Gespräch auf die Haupttribüne des Stadions beordert. Kein Ordner hält einen unterwegs auf, alle Tore und Türen sind einladend geöffnet, niemand bewacht die Logen mit ihren Flachbildschirmen, was vor allem daran liegt, dass es hier keine Logen gibt. Im Stadion am Böllenfalltor bilden ein paar gepolsterte Sitzreihen die Komfortplätze, die meisten Tribünengäste müssen mit verwitterten Holzschalen vorlieb nehmen. Es sind noch vier Tage bis zum Saisonstart mit dem Heimspiel gegen Hannover 96, aber man hat nicht den Eindruck, dass hier noch eilig das Nötigste verschönert würde. Zum Beispiel hat sich während der Sommerpause auch niemand die Mühe gemacht, das Unkraut auf den Stehrängen zu rupfen, die drei Viertel des Stadions umfassen. Viele Darmstädter wollen ihren Fußballplatz, "Bölle" genannt, am liebsten genau so vormodern erhalten, wie er jetzt ist, die Umbaupläne der Stadt werden mit Besorgnis gesehen.

Trainer mit Hang zum Sarkasmus

Er könne sich noch gut erinnern, wie er hier in der zweiten Liga mit Eintracht Braunschweig gespielt habe, sagt Schuster: "Das war 1991 - und es sah alles genauso aus wie jetzt." Der Trainer hat zwar einen Hang zum Sarkasmus und wenig Neigung, die Defizite zu romantisieren, die ihm hier die Arbeit erschweren. Aber Spaß macht ihm der Ausblick in den Altbau trotzdem, weil der in seiner Ursprünglichkeit ebenso ein Gegenentwurf zum Erscheinungsbild des modernen Hochglanzfußballs ist wie der Stil, den er als Lehrmeister propagiert: Im Idealfall, sagt Schuster, der schon als Profi ein robuster Kämpfer war, werde seine Mannschaft aus "elf Kriegern" bestehen. Und die Saison aus 34 Pokalspielen.

Schuster und Franz fungieren in Darmstadt nicht nur als Cheftrainer und Assistenztrainer, sondern auch und unter anderem als Sportdirektoren, Teammanager und Reiseplaner. Nur für das Scouting und die Gegnerbeobachtung haben sie Spezialisten engagierten: ihre jeweils 75-jährigen Väter Eberhard Schuster und Horst Franz, die ehedem - der eine in der DDR-Oberliga, der andere in der Bundesliga - als Trainer gearbeitet haben. Sein Job sei "sehr zeitaufwendig, nervenaufreibend, manchmal frustrierend und stressig sowieso", sagt Schuster, weshalb er sich auch den Vergleich mit den anderen Aufsteiger-Vereinen mit mageren Erfolgsaussichten verbittet: "Ingolstadt ist ein gestandener Zweitligist. Fürth hat jahrelang an der ersten Liga geklopft. Braunschweig ist ein gewachsener Verein mit einer klugen Strategie, Paderborn seit Jahren in der zweiten Liga oben dabei. Bei uns ist es so: Eigentlich in die vierte Liga abgestiegen, dann am grünen Tisch dringeblieben, durchmarschiert in die zweite Liga, wieder durchmarschiert und jetzt - jetzt sitzen wir hier." Als Härtefall unter den krassesten Außenseitern der Ligahistorie.

Darmstadt ist eine Stadt, in der die Straßenbahnen nicht bemalt sind und keine Kaugummis den Bahnhofsplatz verkleben. Eine Studentenstadt mit grüner Ratsmehrheit und grünem Bürgermeister. Ihre Fußballtradition beginnt sie gerade wieder zu entdecken. Als Franz und Schuster vor knapp drei Jahren die Arbeit aufnahmen - mit dem Maximalziel, den Klassenerhalt in der dritten Liga zu schaffen - hat niemand auch nur aufgeschaut, wenn die Mannschaft durch den Wald lief. Nun hat der Klub 13 000 Dauerkarten verkauft, mehr geht nicht. Das Budget der 98er bleibt jedoch so limitiert, dass es einige Stützen der Aufstiegself vorzogen, sich finanziell in Sicherheit zu bringen, anstatt in Darmstadt das Abenteuer fortzusetzen, Mittelfeldspieler Behrens etwa wechselte zum 1. FC Nürnberg - in die zweite Liga.

Für das Wagnis Bundesliga haben Schuster und Franz ihre Mannschaft nach einem Plan formiert, als wollten sie den Film "Das dreckige Dutzend" nachstellen, in dem ein Haufen Gescheiterter und Verstoßener für ein Himmelfahrtskommando gedrillt wird. "Alle, die zu uns gekommen sind, haben irgendwie eine schwere Zeit hinter sich. Sie wurden aussortiert, waren abgestiegen oder arbeitslos. Denn sonst, das muss man ehrlich sagen, wären sie woanders hingegangen", erklärt Franz das Schema der Rekrutierung. So haben sich lauter Profis mit verblichener Reputation, aber einer Menge Bundesligafronterfahrung zusammengefunden. In Robert Aldrichs Kriegsfilm hat der Plan funktioniert, wenngleich außer den Offizieren nur einer aus dem Dutzend der Galgenvögel lebend davonkommt. Dass außerhalb Darmstadts die Mission gemeinhin als ähnlich aussichtslos eingeschätzt wird, das will Schuster nutzen: "Der Druck ist Woche für Woche in der anderen Kabine", prophezeit er. "Jeder unserer Gegner sagt: Wenn wir gegen die nicht gewinnen, gegen wen sollen wir denn dann gewinnen? Wenn du nicht mal in Darmstadt gewinnst, wo willst du denn dann gewinnen? Das kann beim Gegner eine unangenehme Situation hervorrufen."

Wagner und Niemeyer wurden bei Hertha gemobbt

Die jüngsten Zugänge, Peter Niemeyer und Sandro Wagner, hatten zuletzt bei Hertha BSC eine besonders miese Zeit. Sie sollten sich neue Klubs suchen, hatten ihnen die Berliner Verantwortlichen gesagt, dann hat man sie in das Regionalligateam gesteckt, als die anderen ins Trainingslager gingen, und ihnen Einzeltraining verordnet, als die erste Mannschaft wieder zu Hause war. Angreifer Wagner schoss eine halbe Stunde aufs leere Tor, der Mittelfeldspieler Niemeyer schlug Flugbälle durch die Gegend. Nach solchen Demütigungen, die man auch als Mobbing bezeichnen könnte, war es nicht mehr so schwer, sie für die abenteuerliche Aufgabe in Darmstadt zu gewinnen. "Mit welchen Argumenten könnten wir denn sonst punkten?", sagt Schuster. "Mit Geld? Nee. Mit 'nem schönen Stadion? Nee. Mit 'ner geilen Kabine samt Wohlfühltempel und tollen Trainingsbedingungen? Nee. Mit 'ner Stadt wie München? Nee. Also spielt die moralische und emotionale Komponente eine ganz große Rolle."

Das Comeback des "Bölle" und des SV Darmstadt 98 könnte also der Versuch einer Zeitreise werden: mit Volldampf zurück ins 20. Jahrhundert.

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