Eigentlich müssen die Reporter die Antwort schon gekannt haben, als sie Andy Reid zum ungefähr drei Millionsten Mal fragten, was er denn zum Reid Bowl zu sagen habe? Reid, seit zehn Jahren Chefcoach der Kansas City Chiefs, war davor 14 Jahre lang Trainer der Philadelphia Eagles - und die sind am Sonntag der Gegner im Super Bowl. Reid sieht nicht nur aus, wie man sich einen Onkel vorstellt, er benimmt sich auch so. Er sagte deshalb einmal mehr, wie sehr er die Zeit in Philadelphia genossen habe, wie viele Freunde er dort noch habe und dass er der Franchise natürlich nur das Allerbeste wünsche: "Ich habe jede Minute dort geliebt."
Man darf Reid das ruhig glauben, er war sehr erfolgreich in Philadelphia, nur gewann er dort nie die Meisterschaft. Er wurde zum Cheftrainer mit den meisten Siegen ohne Super-Bowl-Sieg, und das führte zur Einschätzung, dass er in wichtigen Partien vom gegnerischen Trainer (meist war es Bill Belichick, New England Patriots) übertölpelt wird und in bedeutsamen Momenten dieser Partien die Nerven verliert. Die wichtigere Frage an Reid wäre deshalb diese: Was hat sich durch den Wechsel nach Kansas City verändert? Antwort: Es kann bisweilen Großes entstehen, wenn sich Zwei auf dem absoluten Tiefpunkt begegnen.
Super Bowl:Mama Kelce brüllt ohne Angst
Erstmals in der Super-Bowl-Geschichte stehen sich zwei Brüder gegenüber: Travis und Jason Kelce. Für Kansas City und Philadelphia werden sie die Schlüsselduelle des Finales führen müssen.
Es war so: Reid hatte die Eagles 2012 zur schlechtesten Bilanz seiner Amtszeit (4:12) gecoacht; sein Sohn Garrett war im Trainingslager vor der Saison an einer Überdosis Heroin gestorben. Die Eagles warfen ihn wenige Stunden nach der letzten Partie raus, Reid flog nach Kansas City. Dort hatten die Chiefs die schlechteste Bilanz der Franchise-Geschichte (2:14) hingelegt. Während der Saison hatte Linebacker Jovan Belcher seine Freundin (und Mutter seines Kindes) ermordet danach vor dem Chiefs-Trainingsgelände Suizid begangen.
Reid und Chiefs-Eigentümer Clark Hunt wollten sich ein paar Stunden lang am Flughafen von Kansas City treffen, dann sollte Reid weiterfliegen nach Phoenix zum Vorstellungsgespräch mit den Arizona Cardinals. Reid und Hunt redeten, über Football, über Verlust, über Cheeseburger (das Lieblingsthema von Reid) - und als nach neun Stunden das letzte Flugzeug nach Phoenix für diesen Tag weg war, waren sich Reid und Hunt einig, dass das klappen könnte in Kansas City.
Reid spricht in Interviews offen über dunkle Tage seiner Karriere
Es klappte unfassbar gut, weil Reid mit der Gelassenheit eines Menschen gesegnet ist, der so viel erlebt hat, dass er den zwei Blendern Triumph und Desaster gleichermaßen gleichmütig begegnet. Er hat Quarterback Patrick Mahomes und Tight End Travis Kelce bei der Talentbörse höchstselbst gewählt und sie zum Duo geformt, das die Chiefs ins dritte Endspiel innerhalb von vier Jahren und zum Triumph vor drei Jahren geführt hat. Er bleibt in wichtigen Momenten großer Partien völlig ruhig: Beim Super-Bowl-Sieg vor drei Jahren sagt er zu Mahomes nach schrecklichem Beginn, dass er sich locker machen und auf gar keinen Fall vorsichtiger agieren solle, das werde schon.
Er redet bei Auswärtspartien mit Journalisten genauso gerne über die Qualität der Cheeseburger in der jeweiligen Stadt wie über die Qualität der Gegner - er ist damit das Gegenteil von Belichick, der Begegnungen mit Reportern so erfreulich findet wie Niederlagen. Reid und Belichick sind Genies, Reid eher der Offensiv-Virtuose, Belichick der genialische Verteidiger. Der Super-Bowl-Sieg hat Reid bestätigt in der These, dass man sowohl ein netter Kerl als auch ein Champion sein kann.
Wenn Reid nicht nach Floskeln über seine Zeit bei den Eagles gefragt wird, spricht er offen über dunkle Tage; also auch den, als Sohn Britt im November ins Gefängnis musste, weil er, damals angestellt als Co-Trainer der Chiefs, kurz vor dem Super-Bowl-Sieg 2020 betrunken ein fünf Jahre altes Kind angefahren und schwer verletzt hatte. "Es tut mir leid für alle, die davon betroffen sind; mein Herz ist gebrochen."
Reids Menschlichkeit betonen viele Spieler, wenn sie über ihn sprechen. Zum Beispiel Quarterback Michael Vick, der nach seinem Gefängnis-Aufenthalt von Reid ein zweite Chance in der NFL bekam: "Er wusste alles über mich: dass ich pleite war, wie es mir privat ging, mit wem ich abhing. Er kümmert sich nicht um dich als Spieler, sondern als Mensch. Wir alle haben mal Probleme im Leben; Reid versteht das, weil er es selbst erlebt hat, wiederholt. Was ich ihm wünsche: den zweiten Titel, der sich so viel besser anfühlen wird als der erste." Selbst gegen den alten Verein, bei dem er jede Minute genossen hat.