Fußball in Südamerika:"Chile braucht Frieden"

Fußball in Südamerika: Auch auf dem Rasen durchsetzungsstark: die Chilenen Aranguiz (rechts) und Vidal beim bisher letzten Länderspiel gegen Deutschland.

Auch auf dem Rasen durchsetzungsstark: die Chilenen Aranguiz (rechts) und Vidal beim bisher letzten Länderspiel gegen Deutschland.

(Foto: Roman Kruchinin/AFP)
  • Die chilenische Fußballnationalmannschaft stellt sich hinter die Protestierenden im Land.
  • Erst wurde das Finale der Copa Libertatoras nach Peru verschoben, jetzt weigern sich die Nationalspieler, am Dienstag ein Freundschaftsspiel zu spielen.
  • "Wir wollen nicht ein Chile für wenige. Wir wollen ein Chile, das allen gehört!"

Von Javier Cáceres

Der Fußball trägt parareligiöse Züge. Er hat Gläubige, die in Kathedralen pilgern, wird von Profis betrieben, die mitunter besser verdienen als Ablasshändler zu Zeiten Luthers, und strebt nach immer neuen Gottheiten. Es ist also gar nicht so überraschend, dass der Fußball - in Anlehnung an den berühmten Aphorismus von Karl Marx über Religion - als Opium fürs Volk bezeichnet wird - oder verdammt, je nachdem. Überraschend wird's, wenn sich Fußballer weigern, ihrer angeblich betäubenden Wirkung auf eine Gesellschaft nachzukommen - so wie jetzt in Chile, einem Land, das seit 18. Oktober der Länge nach in Flammen steht, von der Atacamawüste bis nach Feuerland.

Erst am Dienstag gingen wieder Hunderttausende auf die Straße, in der Nacht zum Mittwoch kursierte die Angst, der neoliberale chilenische Staatspräsident Sebastián Piñera könne, wie schon vor Wochen, Ausnahmezustand und Ausgangssperre verhängen, des Nachts die Soldaten des Heeres patrouillieren lassen und damit Erinnerungen an Pinochets Militärdiktatur (1973 bis 1990) wecken. Wegen der angespannten Lage im Land hatte Chile unter anderem den Klima- und den Asiengipfel abgesagt, aber dennoch verzweifelt versucht, eine Sport-Großveranstaltung zu behalten, um dem Ausland eine längst verloren gegangene Normalität zu suggerieren: Das Finale der Copa Libertadores, der südamerikanischen Fußball-Champions-League, sollte am 25. November in Santiago stattfinden.

Der Kontinentalverband aber machte Piñera einen Strich durch die Rechnung, das Finale wurde in Perus Hauptstadt Lima verlegt. Am Mittwoch stellte sich jetzt auch Chiles Nationalelf auf die Seite derer, die seit Wochen gegen die Regierung demonstrieren - sie sagte ein für den nächsten Dienstag vorgesehenes Freundschaftsspiel in Peru ab: "Es gibt ein viel wichtigeres Spiel, in dem es um (Chancen-)Gleichheit geht, und darum, viele Dinge zu verändern, damit alle Chilenen in einem gerechteren Land leben", hieß es in der Erklärung des Nationalteams.

"Wir wollen nicht ein Chile für wenige. Wir wollen ein Chile, das allen gehört!"

Die Fußballer unterstützen die Demonstrationen: "Chile braucht Frieden, aber auch, dass die Forderungen, die diese Bewegung ausgelöst haben, nicht in Vergessenheit geraten." Nationaltrainer Reinaldo Rueda zeigte Respekt für die Entscheidung seiner Spieler: "Sie glauben, dass es die beste Art ist, Solidarität zu zeigen. Das ist in meinen Augen sehr anerkennungswürdig."

Schon seit Wochen zeigen Chiles Fußballprofis ein Maß an Politisierung, das man kaum für möglich gehalten hätte. Bereits im März nutzte Nicolás Maturana, Profi bei Universidad de Concepción, ein Interview nach einem Spiel, um gegen die Strompreise zu wettern - und die Folgen für breite Bevölkerungsschichten. Während in internationalen Medien noch das Wort von Staatschef Piñera nachhallte, Chile sei "eine Oase", fasste Nationaltorwart Claudio Bravo die über Jahrzehnte gewachsenen Gründe für die angeblich überraschende Rebellion zusammen: "Sie haben unser Wasser, den Strom, das Gas, die Bildung, die Renten, die Medikamente, die Straßen, die Wälder, die Salzfelder der Atacama-Wüste, die Gletscher und den Transport privatisiert. Wir wollen nicht ein Chile für einige wenige. Wir wollen ein Chile, das allen gehört", schrieb Bravo.

Den vielleicht spektakulärsten Auftritt aber legte der stillste Profi von allen hin: Charles Aránguiz, Mittelfeldspieler bei Bayer Leverkusen und - wie Kapitän Gery Medel, der frühere Bayern-Profi Arturo Vidal und Bravo - eine Säule der chilenischen Teams, die 2015 und 2016 die Copa América gewannen: "Wenn ich zu Hause wäre, würde ich an der Seite meiner Leute mitmarschieren und kämpfen", sagte Aránguiz in einem Radiointerview.

Chiles Liga ruht seit den Protesten. Damit ist auch das Einkommen der Profis unsicher.

Das war nicht nur so dahingesagt. Aránguiz kehrt tatsächlich noch dahin zurück, wo er aufgewachsen ist, nach Puente Alto, einem dieser Quartiere Santiagos, in denen nur der Fußball einen Weg nach oben bietet und alles andere unter die Erde weist: die unerschwinglichen Bildungs- und Gesundheitskosten, die Drogen, die Gewalt. Die Explosion sei "kein Wunder", sagte Aránguiz, man müsse nur sehen, wie das Leben der Leute so sei. Und er legte den Finger auch noch in eine andere Wunde: die Rolle der repressiven Apparate des Staates. Aránguiz sprach offen von polizeilichen Übergriffen, prangerte die Zahl der mittlerweile mehr als 20 Toten an und stellte - nicht ohne Grund - die offizielle (und mediale) Darstellung der Gewalt infrage: "Immer, wenn Plünderungen oder Brände gezeigt werden, zweifele ich daran. Ich glaube weder den Polizisten noch den Militärs", sagte er.

Natürlich gab es Vandalismus. Doch Militärs und Polizisten haben bei mancher Plünderung nicht nur weggeschaut. Fast 200 Menschen haben in Chile mindestens ein Auge verloren, durch Gummi- oder Schrotgeschosse der Polizei. Es gab Tausende Festnahmen, die Vorwürfe wegen Folter sind so massiv und belegt, dass Piñera sich gezwungen sah, Menschenrechtsverletzungen "nicht tolerierbar" zu nennen. Für seine Anwürfe wurde der Fußballer Aránguiz von rechtsextremen Politikern angefeindet. Auf den Demos aber wurde die Präsidentenschärpe für ihn gefordert.

Nicht nur Grundversorgungsmittel sind fürs Geschäft geplündert worden - auch der Profifußball

Dass sich der Leverkusener bei der Nationalelf mit der Absage durchsetzte, war nicht unumstritten. Der Torwart von Universidad de Chile, Johnny Herera, wäre "bei allem Respekt" dafür gewesen, das Spiel in Peru auszutragen - es hätte andere Formen des Protests gegeben, sagte der Keeper, der eine führende Position in der Fußballergewerkschaft innehat. Hintergrund: Chiles Profifußball ruht seit dem Ausbruch der Proteste, was unter anderem bedeutet, dass unklar ist, ob die Meisterschaft zu Ende gespielt wird.

Die Profikicker, die im Schnitt kaum mehr als umgerechnet 500 Euro im Monat verdienen (und europäische Lebenshaltungskosten haben), bangen daher um Einnahmen, ebenso rund 10 000 Familien, von Stadionordnern, Klubangestellten, Physiotherapeuten und Imbissverkäufern bis zu den Klubeignern und Medienmogulen, die drohen, Zahlungen an die Klubs einzustellen. Denn was der Torwart Bravo vergaß: Nicht nur Grundversorgungsmittel sind in Chile privatisiert und geplündert worden - auch der Fußball. Und zwar von Unternehmern, die - wie die Fans vom Kultklub Colo Colo schrieben - Klubs "als politisches Instrument zugunsten ihrer Interessen nutzen, uns ermüden, langweilen, entfremden wollen".

Gemeint ist zum Beispiel Gabriel Ruiz Tagle, der Anfang der Woche wegen eines Insidergeschäfts rund um die Aktiengesellschaft Colo Colo von der Börsenaufsicht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Vor Kurzem noch war er Minister - unter Präsident Piñera, der auf vielfältige Weise zu einem Milliardenvermögen gekommen ist, unter anderem als Ex-Hauptaktionär von Colo Colo.

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